Der Zorn der Trolle - Hardebusch, C: Zorn der Trolle
ganz offensichtlich nicht weiter. In ihrer Heimat hätte Artaynis eine solch ungeschickte Dienerin sicherlich bestrafen lassen, aber in Wlachkis musste man einfach damit rechnen, dass die Menschen keine Kultur hatten. Jedenfalls nicht einmal genug, um ein simples Kypassis anzulegen, dessen einzige Raffinesse in der Gürtung und Anordnung des Faltenwurfs lag. In ihrer Heimat wäre ein solches Gewand kaum für mehr als einen ungezwungenen Abend unter engen Freunden geeignet gewesen. Hier jedoch würde es selbst bei einem Festmahl des Herrschers Staunen hervorrufen.
»Ich bin durstig. Bring mir bitte etwas Wasser«, sagte Artaynis freundlich. Manchmal ist mein Herz einfach zu groß, erkannte sie, während sie das Gewand selbst in die richtige Position zog. Mit geübten Griffen ließ sie den Stoff genau die richtigen Falten werfen und legte dann den mit Goldplättchen verzierten Gürtel an. Es war ein schwerer, dicker Stoff, der in verschiedenen Mustern gefärbt war, die, wenn das Gewand richtig lag, den Eindruck mehrerer Kleidungsschichten erweckten. Auf das Purpur waren goldene Verzierungen genäht, von handtellergroßen Scheiben mit Abbildungen von gehörnten Vögeln und geflügelten Löwen bis hin zu fingernagelgroßen Plättchen mit Spiralmustern. Wieder einmal wünschte Artaynis sich das dunkle Haar ihrer Schwestern, denn ihr helles Rot biss sich mit dem edlen Purpur des Kypassis.
Bevor Voica wiederkehrte, band Artaynis noch einen schmalen Ledergürtel unter dem Gewand um ihre Taille. Die Scheide mit dem Dolch lag beruhigend an ihrem Rücken, auch wenn die Waffe nur klein war, um unter dem Stoff nicht aufzufallen.
Als Voica endlich einen Becher Wasser auf einem kleinen
Tablett balancierend zurückkehrte, nippte Artaynis der Form halber daran, um sich dann den Schmuck umlegen zu lassen. Neben den Armreifen hatte sie eine goldene Kette ausgewählt, die aus vielen kleinen miteinander verbundenen Plättchen bestand. Passend dazu würde sie sich noch kleine Goldscheiben in das hochgesteckte Haar flechten lassen.
Zum Glück hatte sie einen Spiegel eingepackt, bevor sie sich auf den Weg über die unwirtlichen Gebirgspässe gemacht hatte. Zwar gab es in Wlachkis durchaus polierte Metallscheiben, doch in denen konnte man sich eher schlecht als recht erkennen. Während Voica ihre Haare flocht und hochstecke, schminkte sich Artaynis im sylkischen Stil, der bei ihrer Abreise noch Mode gewesen war. Vermutlich schminkt man sich inzwischen bereits ganz anders, und ich würde mich in dieser Aufmachung lächerlich
machen, wenn ich zu Hause wäre, dachte die junge Dyrierin wehmütig.
Als sie beide fertig waren, betrachtete sich Artaynis kritisch im Spiegel. Für ein wlachkisches Fest würde es ausreichen. Die bewundernden Blicke der Zofe bestätigten diese Einschätzung. Seit drei Dutzend Tagen war die junge Dyrierin nun am Hofe von Şten cal Dabrân, aber noch immer behandelte Voica sie wie eine Erscheinung aus dem Reich der Geister, als wäre Artaynis wie ein Troll aus den Tiefen der Erde aufgestiegen und würde nun die Hühner mitsamt der Federn verspeisen. Der Gedanke erheiterte sie.
»Ich danke dir, Voica«, sagte die junge Dyrierin ruhig. »Ich benötige deine Dienste nicht mehr. Du kannst dich nun selbst vorbereiten und das Fest genießen.«
»Ihr … ich soll nicht auf Euch warten? Ich darf gehen?«
»Natürlich. An einem so herrlichen Tag könnte ich dich kaum in diesen Gemächern festhalten, oder? Amüsier dich«, riet Artaynis und zwinkerte dem Mädchen zu. Voica war fünfzehn Jahre alt, schon fast eine Frau, und
obwohl Artaynis kaum älter war, fühlte sie sich ungleich erfahrener und weiser. Vielleicht liegt es an dem Land, das hinter seinen Bergen eingeschlossen ist. Alles hier wirkt so … klein.
»Vielen Dank«, hauchte Voica und knickste artig, bevor sie sich abwandte und aus dem Zimmer stürzte. Für das Mädchen war dieser Tag vermutlich der Höhepunkt des Jahres.
Artaynis selbst schritt weitaus langsamer und würdevoller durch die langen, kühlen Gänge der Festung. In Wlachkis schien in allen Gebäuden eine schwer zu fassende Schwermut zu wohnen. Möglicherweise lag es an dem dunklen Stein, aus dem sie erbaut worden waren, aber selbst die weiß getünchten Häuser in der Stadt wirkten trotz ihrer hohen Giebel klein und geduckt, als fürchteten sie den Himmel. Und die Festung war ein dunkler Ort, errichtet für den Krieg, mit trutzigen Mauern. Niemand hatte sich um das Gemüt ihrer Bewohner geschert,
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