Der Zorn der Trolle - Hardebusch, C: Zorn der Trolle
schreckliche Erkenntnis dämmerte in Artaynis auf.
»Sie sind noch dort oben? Ionnis ist noch in seinen Gemächern?«
»Ja.«
Ein kurzes Wort in all dem Lärm, in dem so viel Angst und Trauer mitschwangen, dass der jungen Dyrierin der Atem stockte.
»Ich … ich wollte zu ihnen, aber der Rauch …«
Die Stimme des Voivoden war wenig mehr als ein Murmeln. Der sonst so selbstsicher wirkende Mann zitterte am ganzen Leib, und seine Finger spielten unablässig miteinander. In seine rußige, zerfetzte Kleidung gehüllt, aus Angst um seine Söhne sprachlos geworden, war der Voivode in diesem Moment nur ein Vater, dessen ganze Welt aus dem brennenden Turm vor ihm bestand.
»Was können wir tun?«
»Wir müssen warten«, erklärte Şten langsam, und mit einem Mal fasste er sich. Seine Züge glätteten sich, seine Hände wurden ruhig. »Wir können nichts tun. Ich habe Leute hochgeschickt. Wenn es einen Weg gibt, werden sie ihn finden. Kerr ist bei ihnen. Der Troll kann Hindernisse überwinden, die jeden Menschen aufhalten würden. Wir müssen daran glauben, dass er es schaffen wird, Ionnis zu finden. Wir können nur hoffen und zu den Geistern beten. Und uns darum kümmern, dass der Rest dieser Burg nicht auch noch abbrennt.«
Vielleicht sind diese Worte mehr für seine Ohren als für meine bestimmt, dachte die junge Dyrierin, denn Şten sah sie nicht einmal an, sondern behielt das brennende Gebäude nach wie vor im Auge. Er hat seine Frau verloren. Ionnis hat erzählt, dass er nicht von ihrer Seite gewichen ist, bis zu ihrem letzten Atemzug und weit darüber hinaus. Er weiß, was Verlust ist. Vielleicht fürchtet er ihn deshalb umso mehr.
Schweigend hob auch Artaynis den Kopf. Irgendwo dort oben in den Flammen waren Ionnis und Natiole. So, wie das Feuer tobte, waren sie womöglich längst tot. Und der Voivode hatte recht: sie konnten wenig mehr tun, als zu
beten. Aber die junge Dyrierin war nicht wirklich religiös, und mehr als ein kurzes Adgele, hilf! kam ihr nicht in den Sinn.
Mit aller Gewalt schien sich Şten dazu zu zwingen, seine Augen kurz von dem Turm abzuwenden. Er hustete noch einmal, dann rief er mit lauter Stimme in das Chaos: »Jeder, der einen Eimer halten kann, beteiligt sich an den Wasserketten. Jeder andere verlässt den Hof. Wer jemanden vermisst, meldet es der Wache. Soldaten sind dort oben, um nach Überlebenden zu suchen. Sobald das Feuer unter Kontrolle ist, werden wir mehr wissen.«
Der Voivode selbst reihte sich in die Kette der Wasserträger ein, an vorderster Front, so dass er den Turm nach wie vor unablässig im Auge behalten konnte. Seine Leute schienen dankbar für seine Worte zu sein. Die kopflose Menge im Hof verteilte sich nun besser, und jeder schien willig zu sein, seinen Anweisungen Folge zu leisten. Artaynis nahm den Platz hinter Şten ein, nahm von ihm die leeren Wasserkübel entgegen und reichte ihm die vollen an. Die Zeit verstrich trotz all der Aufregung quälend langsam.
Unvermittelt wurde im dritten Stock des brennenden Turmes ein Fensterladen aufgestoßen, und eine gewaltige Pranke erschien im hellen Rechteck des Fensters. Es folgte ein mächtiger Arm, dann zwängte sich ein kompletter Troll durch die enge Öffnung. Es hätte ein komischer Anblick sein können, wenn es nicht um Leben oder Tod gegangen wäre.
»Den Geistern sei Dank«, raunte Şten, der ebenso wie Artaynis gebannt innehielt und an der Fassade hinaufblickte.
Mit einem letzten Schwung warf sich das Wesen geradezu aus dem Fenster und schlug mit einem Krachen gegen die Mauer. Über ihm flackerte es schon im Gebäude; das Feuer musste das Fenster fast erreicht haben.
Schreie ertönten, Finger wiesen in den Himmel. Dann sah auch Artaynis, dass sich auf dem Rücken des Trolls etwas befand, ein Bündel. Erst als ihr Geist die Größe des Wesens richtig zuordnete, erkannte sie, dass es eine Gestalt war, ein Mensch, der dort leblos auf den Rücken der Kreatur gebunden war. Entsetzt hob Artaynis eine Hand vor den Mund, als der Troll seine Pranke vom Fensterbrett löste und ein Stück die Wand hinabrutschte.
»Er will doch nicht die Wand hinunterklettern?«
Als wolle der Troll ihre Frage beantworten, schlug er seine Klauen in die Wand und ließ das Fensterbrett ganz los. Ein Aufschrei aus vielen Kehlen ertönte, als das gewaltige Wesen weiter abrutschte. Doch Kerr fing sich und tastete mit Händen und Füßen nach Ritzen und Vorsprüngen. Langsam und bedächtig arbeitete er sich weiter, und Artaynis konnte vor
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