Der Zorn des Highlanders
Cameron gerade bis auf das Lendentuch auszog, fiel Avery das Sprechen plötzlich schwer. Es fiel ihr auch schwer, ihre Bewunderung für seinen schlanken, dunklen Körper zu verbergen. Es war nicht leicht, aber sie zwang sich, ihre plötzlich so lüsternen Gedanken wieder auf das vorliegende Thema zu richten: Camerons Beleidigungen gegenüber Payton.
»Natürlich möchte er eine Ehefrau haben – irgendwann einmal. Er hegt keinen Widerwillen gegen die Ehe, sofern man sie ihm nicht aufzwingt, und dann auch noch mit einem Mädchen, das er nicht haben möchte.«
»Wenn er meine Schwester nicht zur Frau haben will, hätte er nicht mit ihr schlafen sollen.«
Als er ihre Handgelenke zusammenband und sich anschließend neben sie auf den Rücken legte, bezwang Avery die Versuchung, ihn bis zur Besinnungslosigkeit mit den Fäusten zu traktieren. Sie sagte sich, dass es gut für ihn war, solches Vertrauen in seine Schwester zu haben, ihr zu helfen und sie beschützen zu wollen. Dieses Vertrauen war betrüblicherweise zwar nicht angebracht, aber sie bezweifelte, dass sie ihn dazu bewegen konnte, das einzusehen.
Einen Augenblick lang wunderte sie sich, warum sie es überhaupt versuchte. Er würde nicht glauben, dass seine Schwester etwas Unrechtes tat, ebenso wenig wie sie glaubte, dass Payton etwas Unrechtes tun würde. Sich mit ihm über dieses Problem zu streiten, war, als würde sie mit dem Kopf gegen eine Wand laufen. Trotzdem wollte sie seine Vorwürfe gegen ihren Bruder auch weiterhin anfechten. Vielleicht setzten sich ja einige der Argumente zur Verteidigung ihres Bruders in Camerons Kopf fest. Vielleicht konnte sie so einige Zweifel in ihm säen, einige Fragen aufwerfen, bevor sie seiner Schwester gegenübertraten. Es verhalf ihm möglicherweise zu der Einsicht, dass seine Schwester log.
»Wann habt Ihr Eure Schwester zum letzten Mal gesehen?«, fragte sie unvermittelt.
Cameron runzelte die Stirn. »Unmittelbar bevor ich hierherkam, also vor über zwei Jahren.«
»Aha. Na gut. Ich habe Payton vor wenigen Monaten gesehen.«
»Und?«
»Es scheint mir, dass ich meinen Bruder besser kenne als Ihr Eure Schwester.«
»Kein Mädchen würde behaupten, ihre Ehre verloren zu haben, wenn es nicht wahr wäre«, raunzte er, gereizt durch ihre Aussage, die zweifellos recht plausibel klang. Er konnte tatsächlich nicht von sich behaupten, dass er seine Schwester gut kannte.
Avery gab einen scharfen, verächtlichen Ton von sich. »Sie würde es behaupten, wenn sie meint, dass sie dadurch etwas bekommt, das sie unbedingt haben will.«
Diese Auffassung kam seiner eigenen viel zu nahe, um etwas dagegenzuhalten. »Und Euer heiliger Bruder soll ein solches Objekt der Begierde sein?«
»Er ist jung und kräftig, er sieht so gut aus, dass er allen Mädchen den Kopf verdreht, und außerdem ist er der Erbe großer Ländereien und eines dicken Geldbeutels. «
Genau der Ehemann, den viele Mädchen und ihre Familien suchten, dachte er missgestimmt. Sein Plan ging nicht auf. Avery hatte plötzlich sinnvolle Argumente auf ihrer Seite, und nun war er derjenige, der sich ärgerte. Er hegte noch immer Schuldgefühle, weil er seine Pläne mit ihr nicht aufgab, obwohl sie das Leben seiner Leute und sein eigenes gerettet hatte. Daher wünscht er sich von ihrer Seite nichts weniger als sinnvolle, vernünftige Argumente. Sie steigerten seine Schuldgefühle bis ins nahezu Unerträgliche.
»Dann wird er einen guten Ehemann für meine Schwester abgeben, selbst wenn er ein Wüstling ist«, entgegnete er ironisch.
Avery fluchte. »Begriffsstutziger Esel.«
»Es ist nicht klug, Euren Entführer zu beleidigen, Mädchen.«
»Ihr habt wohl nie in Betracht gezogen, dieses Spiel zu beenden, aus Dankbarkeit dafür, dass ich Euer mickriges Leben gerettet habe.«
»Einen Augenblick lang schon. Dann aber habe ich nur beschlossen, meine Pläne ein wenig zu ändern. Was auch immer zwischen uns passiert: Ich werde es nicht benutzen, um Euch öffentlich in Schande zu bringen.«
»Ihr hattet vor, meinen Namen in den Dreck zu ziehen?«, fragte sie, beinahe atemlos vor Wut.
»Ich dachte daran. Euer Bruder hat den Namen meiner Schwester beschmutzt. Aber jetzt werde ich das alles sehr vertraulich behandeln.«
»Oh, diese Großmut! Ich fühle mich regelrecht überwältigt.«
Avery drehte ihm den Rücken zu. Sie hatte nicht allzu gründlich darüber nachgedacht, auf welche Weise er sie für seine Pläne benutzen würde – abgesehen davon, dass er ihr die
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