Der Zorn des Highlanders
nicht wirklich guttun und konnte ihr sogar ernsthaft schaden, wenn Cameron ihre Hintergedanken erriet.
Außerdem würde ein Täuschungsmanöver ihr nichts weiter einbringen als noch mehr Langeweile, denn sie würde im Bett bleiben, noch mehr abscheulichen Tee schlucken und noch weniger Zeit mit Cameron verbringen. Als ob das überhaupt möglich wäre, dachte sie gereizt, als sie sich in dem Kissenberg aufrichtete. Er verließ sie früh am Morgen und schlüpfte erst spät in der Nacht zu ihr ins Bett. Wenn er ein oder zwei Mal am Tag einen Blick ins Zelt warf, war das schon viel. Obwohl sie nachts manchmal seine Härte spürte, die sich an ihren Rücken presste, fragte sie sich doch besorgt, ob er aufgrund der Enthaltsamkeit während ihrer Krankheit das Interesse an ihr verloren hatte.
Jetzt kam er zum Bett, um das Hemd zu nehmen, das Donald ihm hergerichtet hatte. Ihr Blick blieb an seinem straffen Bauch hängen. Sie lächelte über das kleine, sternförmige Muttermal unterhalb seines Nabels, das nur teilweise von Härchen verdeckt war. Jedes Mal, wenn sie es sah, wollte sie es küssen.
Avery erkannte plötzlich, dass das ein überraschend vertrautes Bedürfnis war. Das ergab keinen Sinn. Sie hatte es sich nicht zur Gewohnheit gemacht, den Bauch eines Mannes zu küssen. Ihr stockte der Atem, als in ihr plötzlich die deutliche Erinnerung an einen kleinen Jungen aufstieg, den sie auf den Bauch küsste. So genau, als wäre es erst gestern geschehen, konnte sie sehen, wie sie lachte, konnte sehen, wie sich der kleine Junge vor ihr drehte und kicherte, als sie geräuschvoll das kleine sternförmige Muttermal auf seinem runden kleinen Bauch küsste. Ein dunkel aussehender kleiner Junge, mit dichten schwarzen Haaren, geheimnisvollen schwarzen Augen und dunkler Haut. Klein-Alan, dachte sie, als sie Cameron anstarrte. Cameron sah aus wie Klein-Alan als erwachsener Mann. Cameron betrachtete sie mit gehobenen Augenbrauen, und Avery merkte, dass sich der Schreck über ihre Erkenntnis auf ihrem Gesicht spiegeln musste. Sie bemühte sich um innere Ruhe.
»Geht es dir gut, Avery?« Cameron befühlte ihr die Stirn. »Du siehst etwas blass und unruhig aus.«
»Es ist nichts«, sagte sie. »Könntest du mir Gillyanne schicken?«
»Ach, natürlich.«
Sie war zwar etwas verlegen, weil er offensichtlich glaubte, sie brauche Hilfe bei der Erledigung eines dringenden Bedürfnisses. Aber sie nutzte seine Schlussfolgerung zu ihrem Vorteil und starrte auf ihre Hände hinunter, bis sie hörte, dass er das Zelt verlassen hatte. Ausnahmsweise war sie viel zu aufgeregt, um wegen des ausgebliebenen Abschiedskusses gekränkt zu sein. Sie ließ sich gegen ihre Kissen zurücksinken und stieß einen derben Fluch aus. Da kam Gillyanne ins Zelt geeilt.
»Brauchst du Hilfe?«
»Nein.« Avery stand aus dem Bett auf und winkte ab, als ihre Cousine sie zu stützen versuchte. »Gib mir nur einen Augenblick für meine Morgentoilette, dann müssen wir etwas besprechen.«
Gillyanne setzte sich auf das Bett, und Avery verschwand hinter der Decke, die im Zelt aufgehängt worden war, um ihr einen persönlichen Rückzugsraum zu verschaffen. »Du siehst ein bisschen blass aus. Bist du sicher, dass du nicht wieder krank wirst?«
»Sehr sicher. Ich habe eben nur einen kleinen Schreck bekommen.«
Avery schlüpfte gerade wieder ins Bett zurück, als Donald mit ihrem Frühstück kam. Zu ihrem Missvergnügen fühlte sich der Junge zu einem Gespräch aufgelegt und blieb da, während sie aß. Endlich ging er. Avery krümmte sich fast vor Verlangen, mit Gillyanne zu sprechen.
»Ich finde, du siehst ein bisschen erhitzt aus.« Gillyanne streckte die Hand aus, um Averys Gesicht zu berühren.
Schimpfend schob Avery die Hand beiseite. »Ich sehe erhitzt aus, weil ich langsam ärgerlich werde. Ich habe einen ziemlichen Schreck bekommen, Gillyanne. Ich glaube, ich habe vorher etwas sehr Wichtiges entdeckt, aber ich muss dir erst ein paar Fragen stellen. Erinnerst du dich an Klein-Alan, das Kind, das Elspeth und Cormac gefunden und aufgenommen haben?«
»Oh ja, den armen kleinen Jungen. Kaum zu glauben, dass jemand ein Kind im Wald aussetzt, damit es stirbt. Jedes Mal, wenn ich daran denke, kommen mir die Tränen. Aber Gottes Segen liegt auf ihm, denn unsere Elspeth hat ihn gefunden, um sich um ihn zu kümmern.«
»Und er ist sehr dunkel, nicht wahr?«
»Ja, sehr dunkel. Schwarze Haare, schwarze Augen, dunkle Haut.« Während Gillyanne sprach, weiteten sich
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