Der Zorn Des Skorpions
erlebt hatte, an einen einsamen Baum gebunden wurden.
Trat sie, Regan, in ihre Fußstapfen? Waren sie durch diese dunklen, stickigen Tunnel getrieben worden, in denen man kaum Luft bekam? Und dann Elyssa …
Lieber Gott, mach, dass sie noch am Leben ist. Und falls da noch weitere sind … bitte, lass sie alle noch am Leben sein.
Der Staub im Tunnel drang in ihre Lungen, und sie ließ den Strahl der Taschenlampe über die Wände und die Decke gleiten. Weitere Gänge zweigten von dem Haupttunnel ab, doch die meisten von ihnen waren versperrt, die Eingänge mit Brettern verschlossen, und dem Staub und Schmutz nach zu urteilen, der sich dort angesammelt hatte, schien er diese nicht zu nutzen, boten sie keinen Fluchtweg.
Sie musste langsam vorgehen, um sich nicht zu verirren, und sie hatte ihren Weg mit einem Stein, den sie gefunden hatte, gekennzeichnet, hatte Pfeile auf den Boden geritzt, um den Weg zurückverfolgen zu können, und in jeder Sekunde war ihr bewusst, wie die Zeit gegen sie arbeitete, dass der Unhold jeden Augenblick zurückkommen konnte.
»… and so this is Christmas …« John Lennons Stimme erfüllte das Wageninnere. »And what have you …«
Alvarez schaltete das Radio aus. »Ganz genau, John«, sagte sie ohne eine Spur von Begeisterung. Straßenlaternen und Ampeln leuchteten rot, grün und gelb, und die Backsteinhäuser in »Old Grizz«, dem Stadtteil beim Fluss, waren mit Lichterketten geschmückt. Sie fuhr am Gerichtsgebäude vorbei, in dessen Nähe ein mehr als sechs Meter hoher Baum mit bunten Lämpchen behangen war, und als sie der Straße hinauf nach Boxer Bluff folgte, kam sie an der Baptistenkirche vorbei, vor der eine schneebedeckte Krippenszene mit Spotlights angestrahlt wurde. Handbemalte hölzerne Figuren von Maria, Joseph und der Krippe standen umrahmt von Schafen und den drei Weisen aus dem Morgenland.
Bilder ihrer Jugend blitzten vor ihrem inneren Auge auf. Die lebensgroße Krippenszene, die ihr Vater und ihr Bruder alljährlich zu Weihnachten im Vorgarten des einstöckigen Hauses in Woodburn errichteten, der Kleinstadt in Oregon, wo sie mit ihren Brüdern und Schwestern, insgesamt acht, aufgewachsen war, in einer Familie mit zu wenig Geld und zu viel Religion, wie sie mittlerweile fand. Alljährlich hatten die Eltern ihre Kinder zu Mount Angel geschleppt, zur Mitternachtsmesse in der kathedralenartigen Gemeindekirche, und am Weihnachtsmorgen gingen sie dann in ihre eigene, nahe gelegene Gemeindekirche. Ihr Bruder Pablo, der Witzbold, war ständig in Schwierigkeiten geraten.
In einem Winkel ihres Bewusstseins vermisste Alvarez diese frühen Jahre und den engen Familienverbund, den Lärm in einem Haus voll lauter Stimmen in Spanisch und Englisch, voller Musik, die so sehr Teil ihrer Familie war, und die allgegenwärtigen Düfte der Kochkünste ihrer Mutter.
Aber das lag lang zurück.
Das alles war noch vor dem »Ereignis« gewesen. Danach war sie, ihrer Unschuld beraubt, sehr schnell erwachsen geworden.
Jetzt war sie ein anderer Mensch. Ganz anders.
Auf der Bergkuppe angekommen, folgte sie den Straßen bis zum Büro des Sheriffs, wo nur wenige Fahrzeuge parkten. Cort Brewsters Wagen konnte sie nicht entdecken. Was aber nicht ungewöhnlich war.
Der Schichtwechsel stand noch bevor, die Nachtschicht hatte noch ein paar Stunden abzuleisten. Alvarez wollte die Zeit nutzen, um Brewster eingehender zu überprüfen und dann zur Ranch der Longs zu fahren, um Clementine DeGrazio und ihren Sohn, den Scharfschützen, noch einmal zu vernehmen. Über Ross war nicht viel bekannt; nur ein paar Strafzettel wegen zu schnellen Fahrens, ein nicht vorhandener Vater und eine überbehütende Mutter.
Sie belegte ihre angestammte Parkbucht, verriegelte den Wagen und ging in das Gebäude hinein, wo um diese frühe Stunde in den Büros absolute Ruhe herrschte. Zu dieser Zeit arbeitete sie am liebsten, bevor die Misstöne eines gewöhnlichen Tags einsetzten: endlos klingelnde Telefone, Polizisten, die Zeugen und Verdächtige verhörten, Scherzworte unter Kollegen. Bevor der Unglücksstern-Mörder zum ersten Mal zugeschlagen hatte, waren Beruf und Arbeitspensum zwar interessant gewesen, aber gewöhnlich nicht extrem. Doch seit Theresa Kelpers Leiche gefunden worden war, wuchs die Arbeitsbelastung ins Unermessliche.
Selena ging in die Küche, sah den verdampften Rest vom Kaffee des Vorabends in der Kaffeekanne, spülte die Kanne aus und setzte frischen Kaffee auf. Auf einem Tisch standen noch
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