Der Zorn Des Skorpions
Besuch bei Grace Perchant?«, fragte er, und andeutungsweise zeigten sich Lachfältchen an seinen Augen. »Du hast noch nichts davon erzählt.«
»Es war interessant.«
»Aha. Und? Hat sie mit irgendwelchen Geistern gesprochen?«
»Mit vielen, glaube ich. Mandy Ito hat sie wegen Pescoli gewarnt.«
»Klar doch.« Er sah sie merkwürdig an.
Alvarez hatte keine Lust, mit ihm zu streiten, und hätte ihre Argumente sowieso nicht mit Tatsachen untermauern können. Alvarez wollte gerade gehen, als Joelle Fisher in einem festlichen Weihnachtsumhang und beladen mit Tupperdosen, anscheinend mit Süßigkeiten gefüllt, ins Büro schaute.
»Gibt’s was Neues über Detective Pescoli?«, fragte sie hoffnungsvoll. Sie hatte sich einen winzigen Engel aus Pfeifenputzern ins blonde Haar gesteckt.
Graysons Miene wurde, wenn möglich, noch grimmiger.
»Oh, verstehe … Tja, ich habe ein paar … Sachen mitgebracht … Plätzchen und Julekake, so heißt das traditionelle skandinavische Brot. Die Mutter meines Mannes kommt aus Norwegen, wisst ihr …«, plapperte sie, doch dann verstummte sie allmählich. »Okay, tut mir leid, aber es
ist
nun mal Weihnachten, und wenn mich etwas aus dem Gleichgewicht bringt, muss ich backen. Ich habe sogar Hundekuchen für Sturgis …«
Als der große Labrador seinen Namen hörte, wedelte er mit dem Schwanz und sah Joelle erwartungsvoll an.
»Ja, Freundchen …«, gurrte sie. »Fröhliche Weihnachten, Sturgis.« Sie war jetzt bis in die Mitte des Raums vorgedrungen, und durch die offene Tür hinter ihr war das zunehmend geschäftige Treiben im Dezernat zu hören: Schritte von vorbeigehenden Deputys, Telefonklingeln, das Klicken von Tastaturen, alles überlagert von leisem Stimmengesumm.
Joelle stellte einen kleinen Behälter auf der Ecke von Graysons Schreibtisch ab. Die Box war mit einer großen roten Schleife geschmückt, an der ein Kärtchen mit der Aufschrift
Sturgis
hing.
Grayson sah sie an, sagte aber kein Wort.
»Tja, dann bringe ich diese feinen Sachen mal in den Pausenraum.« Sie drehte sich auf ihrem goldenen Absatz um, als wollte sie gehen.
»Joelle«, sagte der Sheriff, und sie hielt inne. »Wenn Sheriff Brewster auftaucht, schick ihn zu mir.«
Alvarez horchte auf und warf Grayson einen Blick zu. Hatte er Brewster auch in Verdacht?
Der Sheriff fuhr fort: »Ich möchte sichergehen, dass er die Anklage gegen Regans Jungen fallenlässt. Am Verschwinden seiner Mutter und der heutigen Schlagzeile hat der Kleine genug zu knacken.«
Joelle verzog das hübsche Gesicht. »Ach, er hat mir gestern gesagt, dass er zu Sitzungen außerhalb des Dezernats muss und erst kurz nach neun kommt. Aber ich rufe ihn an.«
»Tu das.«
Es schien Grayson zu überraschen, dass sein Stellvertreter ihn nicht über sein Späterkommen informiert hatte.
Joelle huschte aus dem Zimmer.
Es traf durchaus zu, dass der zweite Sheriff vielerlei Pflichten außerhalb seines Büros hatte und seine Zeit am Schreibtisch naturgemäß flexibel einteilen konnte, doch seit der Erkenntnis, dass ein Serienmörder die Gegend unsicher machte, pflegten Brewster und der Rest der Belegschaft früh ins Büro zu kommen, um den Tagesplan zu besprechen.
An diesem Morgen aber augenscheinlich nicht.
Alvarez kehrte an ihren Schreibtisch zurück und entschied, dass ihre Prüfung der Aktivitäten des zweiten Sheriffs noch nicht abgeschlossen war.
Klar, er war Polizist mit Leib und Seele, und nach allem, was man hörte, auch ein engagierter Familienmensch. Dazu Kirchenältester in seiner Gemeinde. Jemand, zu dem die Leute aufblickten. Ein gutaussehender, geradliniger Mann, äußerlich betrachtet. Aber trotzdem bestand die Möglichkeit, dass Cort Brewster ein geheimes zweites Leben führte.
Elyssa hatte noch nie im Leben eine derartige Angst ausgestanden. Jetzt wusste sie, dass Liam, der Mann, zu dem sie Vertrauen gefasst hatte, ein kaltblütiger Mörder war, der, von dem sie gehört hatte, bevor sie in die Ferien aufbrach. Verschwommen hatte sie mitbekommen, dass ein Abartiger in diesem Bereich der Bitterroots sein Unwesen trieb und Frauen im Wald erfrieren ließ. Sie hatte nicht weiter darauf geachtet; sie hatte sich so darauf gefreut, über Weihnachten nach Hause zu fahren, und sie hatte gehofft, dass Cesar ihr einen Antrag machte. Das alles schien nun in weiter Ferne zu liegen. War Teil eines anderen Lebens.
Sie lag auf der Ladefläche des Pick-ups, und Tränen flossen über ihr Gesicht. Durch die Fenster im Verdeck
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