Der Zorn Des Skorpions
aufgefallen. Sich zu ihr hingezogen zu fühlen, sich auf ihr Spielchen einzulassen, das war sein erster Fehler gewesen. Der zweite Fehler war, mit ihr ins Bett zu gehen. Und nun beging er den dritten: Sie war ihm wichtig. Er sorgte sich um sie. Vermisste sie.
»Vergiss es, Nate.«
Er trank zwei Tassen schwarzen Kaffee, erwog, sich noch eine Scheibe Brot abzuschneiden, sagte sich dann aber, dass er doch keinen Bissen mehr hinunterbekommen würde. Als er den Wetterbericht verfolgte, nur mit halbem Ohr, weil er sowieso nicht mit Änderungen rechnete, horchte er schließlich doch auf, als ein weiterer Sturm angekündigt wurde.
Toll.
Die Zeit verging. Er warf einen Blick auf die Uhr über der Spüle und runzelte die Stirn. Noch eine Stunde bis Tagesanbruch. »Ach, verflucht«, schimpfte er leise. Er konnte es nicht ertragen, untätig zu sein. Er pfiff nach seinem Hund und ging zur Tür, wo er die Schneekleidung wieder anzog, die er erst vor so kurzer Zeit abgelegt hatte. »Komm, Nakita«, sagte er. Der Hund gähnte und streckte sich. »Gehen wir in die Stadt.«
Es war höchste Zeit, Pescoli aufzuspüren.
Nach einer schlechten Nacht wälzte sich Alvarez aus dem Bett, taumelte unter die Dusche, verzichtete auf Make-up und trocknete ihr dichtes Haar. Mit einem Haargummi nahm sie es zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen, den sie zu einem festen Knoten auf dem Kopf drehte. Sie betrachtete sich im Spiegel und bemerkte, wie ihre Augen dank der schrecklichen Erkältung ziemlich wässrig wirkten. Ihr Teint war fahl, die Nase rot.
»Ein Schönheitswettbewerb ist heute für dich nicht drin«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild, putzte sich die Zähne und gurgelte mit einem scharfen antibakteriellen Mundwasser.
Sie konnte es sich nicht leisten, krank zu sein.
Nicht jetzt.
Sie zog eine seidige lange Unterhose an, einen Pullover und ihre Uniformhose. Nüchtern musterte sie sich im Spiegel und fragte sich, was aus ihr geworden war. Als Teenager war sie stolz auf ihr gutes Aussehen gewesen, hatte ihre schlanke Figur gern betont, mehr Make-up benutzt, als ihre großen Augen, hohen Wangenknochen und vollen Lippen nötig hatten.
Aber das alles war schon so lange her. Es erinnerte sie an eine Zeit, als das Leben noch viel versprechend und voller Lachen war.
Stirnrunzelnd blendete sie das Bild schnell aus und schnallte sich ihr Schulterhalfter um.
Für sie galt all das, was ihr in ihrer Jugend wichtig war, nicht mehr. »Heiß«. Oder »cool«. Was auch immer gerade angesagt war. Auch »scharf« oder »sexy« oder »frech« traf nicht auf sie zu. Und würde wohl nie wieder zutreffen.
Was ihr nur recht war.
Bis auf die Tatsache, dass sie allein war. Kein Ehemann, Lover oder Freund in Sicht. »Macht aber nichts«, sagte sie zu sich selbst und erhitzte Teewasser in der Mikrowelle. Immerhin hatte sie schon darüber nachgedacht, ob sie sich nicht ein Haustier zulegen sollte. Warum nicht? Einfach um etwas Lebendiges um sich zu haben, etwas, zu dem sie heimkommen konnte.
Ein Vogel wäre gut … vielleicht ein Papagei oder Ara oder … wem wollte sie etwas vormachen? Ein Vogel? Im Käfig? Der Körner verstreut und auf den mit Zeitung ausgelegten Käfigboden kackt? Oder mit gestutzten Flügeln auf der Vorhangstange hockt?
Das überließ sie lieber anderen. Das war nicht Selenas Stil. Ihr fehlte nichts. Auch, wenn sie allein war. Im Grunde war es ihr so doch am liebsten.
Sie warf einen Blick auf ihren Schreibtisch in der winzigen Wohnung. Fotos und Notizen zu der Mordserie lagen verstreut darauf herum. In ihrem Bett hatte nie ein Mann geschlafen. Seit über drei Jahren lebte sie in Grizzly Falls, seit ihrem Umzug aus San Bernadino. »Einzelgängerin« nannte man sie, oder auch »Eisprinzessin«. Sie hatte sogar einmal gehört, wie Pete Watershed, ein Kollege, einer Gruppe von Polizisten gegenüber angedeutet hatte, sie wäre »wahrscheinlich vom anderen Ufer«. So elend sie sich im Moment auch fühlte, darüber musste sie doch lächeln.
Wenn die wüssten! Doch im Grunde war es ihr egal. Außerdem war Pete Watershed ein Trottel.
Alvarez war der Meinung, je weniger ihre Kollegen und Bekannten über sie wussten, desto besser konnte sie ihre Arbeit bewältigen. Und ihre Arbeit lag ihr am Herzen.
Das Klingeln der Mikrowelle ertönte, sie entnahm dem Gerät den Becher mit fast kochendem Wasser und hängte einen Teebeutel hinein. Ihre Großmutter schwor darauf, Honig und Zitrone in den Tee zu geben, um »den Husten zu lösen«, doch in
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