Der Zorn Des Skorpions
diesem Raum hinabstieg.
Wo bin ich nur?,
dachte sie jetzt und blickte um sich. Hatte er oder jemand anderer vor ihm hier einen unterirdischen Schlupfwinkel eingerichtet? In einer Höhle? Oder in einem alten Keller? Stand ein Haus darüber?
Sie hob den Blick zur Decke. Kein einziges Mal hatte sie über sich Schritte gehört, doch das Fenster befand sich oberirdisch, oder? Sie schaute auf das Fenster mit der Milchglasscheibe, dann an der Decke entlang zum Ofenrohr des Holzherds bei der Tür. Neben ihm lagen ein Holzstapel und ein Schürhaken – o Gott, was würde sie dafür geben, das Ding in die Finger zu bekommen! –, dazu ein alter Blasebalg und ein Paar Lederhandschuhe und sogar ein Grillfeuerzeug, vermutlich komplett mit seinen Fingerabdrücken.
Sie betrachtete den Herd. Trotz der Dunkelheit erkannte sie, dass er antik war, die Art Herd, auf der ihre Großmutter zur Zeit der vorigen Jahrhundertwende gekocht hatte. Das Ofenrohr führte nicht senkrecht nach oben durch die Decke, sondern bog sich in einem rechten Winkel und verschwand in der Wand, wo sich auch die Tür zum Nebenraum, zu
seinem
Zimmer, öffnete.
Sie konzentrierte sich auf die Tür. Sie war dick, aber ein bisschen zu kurz, so dass ein Streifen Licht unter ihr durchscheinen konnte, wenn er anwesend war, wenn sein Feuer brannte, wenn er die Beleuchtung eingeschaltet hatte. Sie hatte seinen Schatten beobachtet, hatte gesehen, wenn er nahe an die Tür trat, um zu lauschen, und vielleicht durch den Spion, den sie in dem schweren Holzpaneel vermutete, nach ihr sah.
Perverses Schwein.
Angewidert stieß sie den Atem aus. Sie konnte nicht einfach tatenlos herumliegen und warten, um Himmels willen. Er mochte jeden Moment zurückkommen. Der Gedanke jagte ihr eine Gänsehaut über den Rücken.
Regan schloss sekundenlang die Augen, versuchte, Kräfte zu sammeln, und dachte an Santana. An seinen durchtrainierten Körper. Das Zucken seiner Mundwinkel. Er konnte sie zum Lachen bringen, ganz gleich, wie übel die Lage war, und wenn es ihm – selten genug – mal nicht gelang, dann brauchte er nur mit den Fingern ihren Nacken zu streicheln oder ihre Schulter zu küssen …
Ihr wurde die Kehle eng.
Ach, hör doch auf! Werde bloß nicht weinerlich! Wie diese Weiber, die du so verabscheust! Los, Detective, du musst aufstehen! Die Schweißnaht weiter bearbeiten!
Sie biss die Zähne zusammen und wollte sich gerade von der Pritsche wälzen, als sie es hörte.
Ein fremdartiges Geräusch. Leise und gebrochen. Pescoli erstarrte und lauschte angestrengt. Bildete sie sich Dinge ein? Ein Stöhnen. Nein, es war eher ein Wimmern und dazu erbarmungswürdiges Schluchzen.
Und diese Geräusche stammten nicht von ihr selbst.
14. KAPITEL
A ls er noch lebte, war Brady Long oft genug in aller Munde.
Im Tod erst recht, dachte Alvarez, als sie das offene Tor zu seinem Besitz passierte und bereits einen Übertragungswagen vom Sender KBTR am Straßenrand beim Zaun stehen sah. Ein Kameramann in Daunenjacke und Thermohose baute auf, während eine Reporterin neben ihm stand und ungeduldig mit den Füßen scharrte. Ein weiterer Kleinbus traf gerade ein; der Schnee spritzte unter seinen Reifen.
»Woher wissen sie immer schon vor uns Bescheid?«, fragte Grayson, als Deputy Connors, der Wache stand und die Zufahrt für alle außer der Polizei gesperrt hielt, sie durchwinkte.
»Ihr sechster Sinn«, antwortete Alvarez. Die Scheibenwischer waren den Schneemassen kaum gewachsen. Alvarez fuhr vorbei an dicht stehenden Kiefern, Tannen und Espen, ihr Fahrzeug rumpelte durch die von vorangegangenen Wagen ausgefahrenen Spuren. Rotes und blaues Licht blitzte zwischen den Bäumen, spiegelte sich im Schnee und in den riesigen Fenstern des Jagdhauses der Longs.
Ein Rettungswagen stand mit laufendem Motor im Schnee auf dem Parkplatz bei der Garage, wo bereits ein Feuerwehrfahrzeug, zwei Wagen vom Büro des Sheriffs und ein zerbeulter Pick-up, in dem ein Hund saß, geparkt waren.
»Schlechte Nachrichten verbreiten sich schnell«, bemerkte Grayson.
Besonders, wenn sie Prominente wie Brady Long betreffen.
Alvarez schaltete den Motor aus, öffnete die Tür und landete mit den Füßen in dreißig Zentimeter hohem Schnee. Sie stapfte hinter Grayson her zu einer offenen Tür im Schutz eines Carports, trug sich in die Anwesenheitsliste ein und trat ins Haus, wo die Forensiker bereits fotografierten und ausmaßen.
Ivor Hicks saß am Küchentisch. Er blickte zu Grayson auf und wirkte erleichtert.
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