Der Zorn Des Skorpions
»Sheriff! Gott sei Dank, Sie sind da!«
»Ivor glaubt, er hätte einen Yeti gesehen«, berichtete Deputy Watershed.
»So was wie den Sasquatch?«, fragte Grayson geistesabwesend.
»Nur, wenn der Kerl ein Albino ist. Das weiß doch jeder, dass ein Sasquatch schwarz oder braun oder grau ist. Ich habe einen Yeti gesehen. So einen abscheulichen Schneemenschen, Sie wissen schon«, sagte Ivor, gelinde empört über die Unwissenheit des Sheriffs. »Einen Yeti. Er war hier, ich sag’s Ihnen. Ein Riesending, mindestens zwei zehn, wenn nicht zwei fuffzig groß. Weiß und haarig und mit gelben Augen wie Laserstrahlen!«
Watershed sah Grayson an. »Er weigert sich zu pusten.«
»Ich hab doch gesagt, ich habe ein paar Schlucke getrunken. Na und? Nur zum Aufwärmen in diesem fürchterlichen Schneesturm. Ich
weiß,
was ich gesehen habe.«
»Was wolltest du hier? Auf Hubert Longs Besitz?«
Ivor öffnete den Mund, klappte ihn jedoch gleich wieder zu.
Watershed, eine Augenbraue skeptisch hochgezogen, sagte: »Wieder mal die Aliens. Sie haben ihn gezwungen, in der Eiseskälte hierherzuwandern.«
»Ich habe Ihnen geholfen, als es um diese Ito ging, oder?«, brauste Ivor auf und funkelte Watershed an, als wäre er der Leibhaftige.
»Wir sprechen gleich darüber.« Grayson sah den Deputy an. »Ruf seinen Sohn an, Bill. Sag ihm, er soll seinen Vater auf der Wache abholen.«
»Halten Sie gefälligst meinen Jungen da raus!«
»Entweder holt er dich ab, oder du kommst in die Ausnüchterungszelle, Ivor«, bestimmte Grayson mit einem Seufzer. »Überleg’s dir.« Er und Alvarez gingen an einem Speisezimmer mit sechs Meter hoher Decke, Kandelabern aus Rotwildgeweihen und Lämpchen, einem ovalen Tisch mit Platz für ein Dutzend Leute und einem atemberaubenden Blick auf den Garten vorüber. An einem Tisch saßen ein Mann und eine Frau vor einem Computer und einem Handy, inspizierten Bradys elektronische Medien und machten sich Notizen. Um sie herum auf dem Boden standen offene Kisten mit Computerwerkzeug.
»Niemand wohnt hier dauerhaft, oder?«, fragte Alvarez.
»Die Hauswirtschafterin vielleicht?«, regte Grayson an.
Darauf bedacht, die Kriminaltechniker, die den Tatort untersuchten, nicht zu stören, durchquerten sie den Flur. Nate Santana wartete in dem riesigen Wohnzimmer. Statt sich auf einem der Sofas oder Sessel niederzulassen, stand er lieber an den Fenstern zur Frontseite des Hauses. Draußen war kein unberührter Schnee mehr zu sehen; dort standen Polizei- und Rettungsfahrzeuge kreuz und quer.
Santana hatte die Hände in die Gesäßtaschen seiner Jeans geschoben. An seinen Handgelenken klebte Blut, sein Gesicht wirkte angespannt. Eine Polizistin, Jan Spitzer, war bei ihm. Sie hatte ihn von Ivor getrennt, damit das Morddezernat von ihnen unabhängige Aussagen bekommen und feststellen konnte, ob die Geschichten der beiden Männer übereinstimmten. Santana warf einen Blick über die Schulter, als sie vorbeigingen, und es war nicht zu übersehen, dass er gereizt und nervös war. Sein Gesicht wirkte jetzt unendlich müde.
»Einen Moment noch, wir kommen gleich«, sagte Alvarez, bevor sie Grayson durch einen geräumigen Flur unter der Treppe hindurch zum Arbeitszimmer folgte.
Eine Doppeltür führte in ein gediegenes Zimmer, in dem es schwach nach Zigarren und bitter metallisch nach Blut roch. Mehrere Polizisten hielten sich hier auf, nahmen Maß, fotografierten und suchten nach Finger- und Schuhabdrücken.
»Da ist das Opfer.« Virginia Johnson, eine Kriminaltechnikerin, sammelte Beweismaterial. Sie blickte auf, als Grayson eintrat, und deutete auf einen vormals gutaussehenden, jetzt toten Mann, der augenscheinlich in seinem Schreibtischsessel erschossen wurde. Seine Haut war weiß, das Gesicht aschfahl, das Hemd nass und rot von Blut. »Brady Long.«
»Ich hatte schon das Vergnügen. Als er noch lebte.« Der Sheriff trat näher an die Leiche heran und betrachtete die Wunde – blutiges Fleisch war unter dem nassen Hemd zu sehen. »Da muss jemand gewaltig sauer auf ihn gewesen sein.« Er hob den Blick und ließ ihn durch den Raum schweifen. »Ein missglückter Raubüberfall?«
Johnson furchte die Stirn. »Sieht nicht so aus. Und kein gewaltsames Eindringen. Keine Hinweise auf einen Kampf. Aber wir haben etwas gefunden. Sehen Sie sich das an.« Sie drückte eine verborgene Taste am Schreibtisch, und die Wand neben dem Kamin, bespannt mit einem schütteren Zebrafell, schob sich zur Seite und gab den Blick frei auf eine
Weitere Kostenlose Bücher