Der Zorn Des Skorpions
gelernt. Vor dem Besuch der Schwesternschule hatte sie den Bachelor in Naturwissenschaften gemacht und drei Semester Biologie studiert, doch das lag schon eine Weile zurück, und außerdem konnte sie im Moment nicht klar denken. Aber im Grunde war es auch egal. Ihre einzige Sorge war jetzt, dass sie heil nach Hause kam.
»Zuerst ins Krankenhaus«, hatte Liam sie berichtigt, als sie erwähnte, dass sie zu Weihnachten bei ihrer Familie sein wollte. »In Erster Hilfe kenne ich mich ganz gut aus, das muss ich wohl, weißt du, wenn ich hier oben lebe. Und, ja, ich habe noch ein paar Tabletten gegen deine Schmerzen. Aber du musst einen Arzt aufsuchen, bevor du nach Missoula verduftest.« Dann hatte er gelächelt, ein liebes Lächeln, das ihr leise Gewissensbisse eintrug, denn sie hatte ja schon einen Freund, einen Mann, der sie, wie sie hoffte, zu Weihnachten mit einem Verlobungsring überraschen würde, was ihrem Vater natürlich nicht sonderlich gefallen würde.
Dad verstand Cesar einfach nicht, der, wie Elyssa zugeben musste, ein bisschen ungehobelt war. Aber er brauchte einfach nur eine gute Frau, die ihm half, seiner Ex-Frau, diesem Miststück, seine Kinder abzutrotzen.
Doch hier, in Liams Nähe, waren ihre Gefühle für Cesar ein bisschen durcheinandergeraten. Und er konnte so gemein sein … Aber Liam, der war lieb. Gut. Hatte sie gerettet, als er ihren Saturn am Boden der Schlucht entdeckte, nachdem ein Reifen geplatzt war und sie das Bewusstsein verloren hatte.
Sie war wieder zu sich gekommen, als Liam versuchte, sie aus dem Fahrzeug zu ziehen. Er war mit Schneeschuhen unterwegs gewesen, als er sie fand.
Zuerst hatte sie Angst gehabt, doch als Liam ihre Verletzungen behandelte – ein verstauchtes Handgelenk, eine Zerrung im Knie, dazu Schnitt- und Schürfwunden und wohl auch die eine oder andere angeknackste Rippe –, da fing sie an, ihm zu vertrauen. Er war sanft und fürsorglich, und alles, was er getan hatte, um ihre Genesung zu fördern, war genau richtig gewesen. Sie hatte lange genug die Schwesternschule besucht, um das zu erkennen. Und er hatte versucht, die Polizei anzurufen, aber sein Handy funktionierte nicht richtig, und ihres war bei dem Unfall verlorengegangen … Und jetzt lag sie hier in diesem kleinen Zimmer, versorgt von einem Mann, der tatsächlich wie ein guter Samariter war. Er besaß eine Krücke, die viel zu groß war, es ihr jedoch ermöglichte, durch die drei Räume seiner Hütte zu humpeln: den Wohnbereich mit dem kleinen Holzfeuerherd in einem Alkoven, der auch als Küche diente, und ein weiteres Schlafzimmer, »sein« Zimmer, am anderen Ende, dazu ein kleines Bad. Es gab noch eine Tür, eine, die von der anderen Seite abgeschlossen war. Dahinter befand sich, wie Liam erklärt hatte, eine Treppe zu seinem Arbeitsbereich. Er »dilettierte« in Geologie, und dies schien zusätzlich zur Astronomie seine Leidenschaft zu sein, wenngleich er behauptete, seinen Lebensunterhalt von Frühling bis Herbst als Angel- und Jagdführer zu verdienen. Im Winter verkroch er sich hier.
»Ich bin wohl eine Art Einzelgänger«, gab er zu, und zu Anfang hatte sie Angst gehabt. Hatte sie nicht irgendetwas von einem Serienmörder in diesem Landesteil gehört? Sie hatte kaum darauf geachtet, hatte nur im Internet und im Vorbeigehen am Kiosk irgendwelche Schlagzeilen gesehen. Ein paar Studenten hatten darüber geredet, aber es hatte sie nicht interessiert, und die Nachrichten im Fernsehen verfolgte sie nie. Das alles war zu deprimierend.
Aber der Gedanke war ihr durch den Kopf gegangen.
Liam jedoch war gut zu ihr.
Und sie glaubte, er könnte vielleicht im Begriff sein, sich in sie zu verlieben.
Nicht, dass er jemals etwas versucht hätte. Er hatte sie nicht einmal geküsst, hatte sie nur zärtlich berührt, wenn er ihre Verletzungen versorgt hatte. Trotzdem, neuerdings dachte sie nicht mehr so oft an Cesar, dafür immer mehr daran, wie es sein würde, Liam zu küssen, seinen langen Rücken zu streicheln, seine harten Muskeln zu fühlen.
Es war verrückt. Sie kannte ihn kaum, und dennoch, die Art, wie er sie mit Blicken auszog, verriet seine Gefühle. Die Chemie zwischen ihnen stimmte, das war offensichtlich. Und wenn sie ihn dabei ertappte, dass er sie anstarrte, spürte sie einen Kloß im Hals. Sie wandte jedes Mal den Blick ab, aus Angst, er könnte merken, dass sie von ihm träumte.
Hör auf!
So durfte sie nicht denken.
Sie durchlebte nur gerade einen schlimmen Fall von Lagerkoller, und er
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