Der Zorn Des Skorpions
Sekunde des Wartens hat sich gelohnt. Ich muss mich nur immer wieder ermahnen, weiterhin geduldig zu bleiben und der Polizistin gegenüber die Ruhe zu bewahren. Sie hat eine Art, meine Nerven zu strapazieren, mich zu reizen und zu verunsichern und meinen Zorn zu wecken.
Und das darf nicht sein. Noch nicht.
Wieder wandert mein Blick zu der Tür zu ihrem stillen Zimmer. Ich spüre meine Wut, doch ich zügle sie. Noch eine Weile. Und dann …
Ich knacke den Eiswürfel mit den Zähnen.
Und dann: aufgepasst!
Annette rief Jalicia an, als sie gerade ihre Sachen packte und Feierabend machen wollte. »Mr. Tinneman ist auf Leitung eins.«
»Schön«, sagte diese.
»Soll ich ihn durchstellen?«
»Ja«, antwortete die Ärztin und runzelte leicht die Stirn. Sie hatte im Zusammenhang mit Padgett Long kaum jemals etwas von irgendwem gehört, und jetzt rief der Anwalt von Padgetts Vater schon zum dritten Mal an einem Tag an.
»Dr. Ramsby?«, meldete der Anwalt sich aufgebracht. »Schön, dass ich Sie noch erreiche, bevor sie gehen.«
»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?« Sie sah auf die Uhr. Es war spät und wurde immer später, und sie hatte keinen anderen Wunsch mehr, als nach Hause zu gehen und etwas Schönes zu essen, eine Gemüsepfanne, die sie selbst zubereiten wollte.
»Nach dem Gespräch mit Ihnen habe ich Mr. Long, Padgetts Vater, besucht.«
»Wie geht es ihm?«, fragte Jalicia.
Ein kurzes Zögern war in der Leitung spürbar. »Nicht gut. Damit verletze ich nicht meine Schweigepflicht als Anwalt einem Klienten gegenüber. Es ist allgemein bekannt. Die Pfleger in Regal Oaks wollen sich auf keinen Zeitraum festlegen, verstehen Sie, aber ich glaube nicht, dass er die Woche noch überlebt.«
»Das tut mir leid.« Er hatte sich schon früher dahin gehend geäußert.
»Doch jetzt hat sich eine unerwartete Komplikation ergeben. Eine Tragödie. Der eigentliche Grund für meinen Anruf. Hubert Longs einziger Sohn, Brady, Padgetts Bruder, ist heute gestorben.«
»Gestorben«, wiederholte sie schockiert und legte instinktiv wie schützend die Hand aufs Herz. »Hatte er einen Unfall?«
»Ich fürchte, es war Mord, Dr. Ramsby. Die Polizei in Grizzly Falls hält sich ziemlich bedeckt, aber ich habe mir bestätigen lassen, dass Brady Long tot ist.«
Jalicia blinzelte, versuchte, das Gehörte zu verarbeiten. »Mord?«
»So sieht es aus. In ganz Montana berichten die Nachrichten darüber.«
»Wie? Was …? Es tut mir leid.« Das sagte sie ständig. In Bezug auf Menschen, die sie gar nicht kannte. Aber sie waren Padgetts Angehörige. Ihre einzigen? Und binnen einer Woche hatte sie wahrscheinlich beide verloren.
Ihre Gedanken eilten voraus. Sie rollte ihren Stuhl zurück zum Aktenschrank, schloss ihn auf und entnahm ihm das Material zu Padgett Long: drei dicke Akten.
»Diese Tragödie hat uns alle einigermaßen – schockiert.«
»Ja.«
»Es ist eine heikle Angelegenheit, da Mr. Long noch lebt. Aber wir müssen uns für das Unvermeidliche wappnen, da es gewissermaßen auch Auswirkungen auf Padgetts Versorgung haben wird.«
»Ich verstehe.«
»Hubert ist über Bradys Tod informiert worden, und er hat eine Bitte.«
»Padgett betreffend?«
»Ja.«
Die drei Akten im Arm, rollte Jalicia ihren Stuhl zurück an den Schreibtisch und schlug die jüngsten Eintragungen zu der Patientin auf. Dann rief sie auf ihrem Computer diejenigen Dateien auf, die die meisten Informationen enthielten.
»Padgett Long wird das einzige Familienmitglied sein, das Hubert überlebt. Seine Alleinerbin.«
Es existierten also keine weiteren lebenden Verwandten mit Erbansprüchen, und Tinneman sah sich vor einer unerwarteten Wendung.
»Natürlich ist für Padgett ein Treuhandfonds eingerichtet«, fuhr er fort. »Und sie ist – nicht im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte, der Nachlass wird ihre Versorgung auf immer sicherstellen. Doch da muss auch noch ein anderer Bereich angegangen werden …«
»Und welcher?«, fragte sie, als sein langes Schweigen Unbehagen weckte.
»Wenn Sie Ihre Akten durchsehen, die alten, in denen Padgetts Einweisung verzeichnet ist, werden Sie, wie ich vermute, erfahren, dass sie eine kurze Zeit – nur etwa vier Monate – in einer anderen Institution zugebracht hat.«
»Okay.« Sie schob die aktuelleren Akten zur Seite und konzentrierte sich auf die dritte, die fünfzehn Jahre alt war. Einige Seiten waren vergilbt und rochen muffig. Jalicia klemmte sich den Hörer zwischen Ohr und Schulter und
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