Der Zorn Des Skorpions
schlug behutsam Seite um Seite der alten Dokumente um. »Ihre Aufzeichnungen liegen mir vor.«
»Gut. Diese Institution nennt sich Cahill House und befindet sich in San Francisco.«
»Ich sehe nach, Mr. Tinneman, aber ich finde nichts.«
»Sie haben bestimmt eine Kopie.«
»Es ist eine Menge Papier. Vielleicht brauche ich etwas mehr Zeit, um die Akte gründlich zu studieren. Oh, Moment …« Sie fuhr mit dem Finger eine vergilbte Seite herab, und dort las sie in verblassten Buchstaben:
Überweisung von Cahill House.
Der Eintrag fand sich versteckt in den ersten drei Seiten von Padgetts Aufnahmeformular. Jalicia sah noch einmal im Computer nach und furchte die Stirn. Offenbar war diese Information übersehen worden, als die Akte in der Datenbank gespeichert wurde. »Ich hab’s. Cahill House in San Francisco?« Die Adresse war kaum noch zu entziffern. »Ist das ein Privatkrankenhaus? Ich habe noch nie davon gehört.«
»Nein, es ist kein Krankenhaus. Nicht im engen Sinne.« Seine Stimme klang ein bisschen angespannt, als wäre ihm plötzlich der Kragen zu eng. »Es gehört der Familie Cahill, schon seit Generationen. Dort kommen junge Mädchen unter, die – in Schwierigkeiten geraten sind.«
Jalicia blickte mit schmalen Augen auf das Telefon. »Sie meinen, die schwanger sind?« Zuerst hatte seine Stimme seine Anspannung wegen Brady Longs unerwartetem Tod verraten, jetzt schlich er um den heißen Brei herum. Verlegenheit wegen einer ungewollten Schwangerschaft? Nahm er Huberts Standpunkt ein?
»Ja, sie war schwanger.«
»Hat sie das Kind ausgetragen?«, fragte Dr. Ramsby, als Tinneman erneut in Schweigen verfiel.
»Sie hat das Kind – einen Jungen – zur Adoption freigegeben.«
Jalicia lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, musste das Gehörte zunächst verkraften. Sie blickte aus dem Fenster in das blasse Wintersonnenlicht, das die Wolken durchdrang, und dachte an die Frau in Zimmer 126 mit den sehr blauen Augen, dachte an die Intelligenz, die in ihnen durchschimmerte. »Freiwillig?«, fragte sie.
»Natürlich.«
»Die Frau, die, seit sie hier ist, kein Wort gesprochen hat, war einverstanden, ihr Kind fortzugeben?«
»Worauf wollen Sie hinaus, Dr. Ramsby?«, fragte er gepresst.
»Absolut nichts weist darauf hin, dass Padgett Long eine solche Entscheidung selbständig treffen könnte.«
»Padgett hat die Adoptionsdokumente für ihren Sohn unterzeichnet, und sie wurden versiegelt«, bemerkte er sachlich.
War Padgett tatsächlich jemals in der Lage gewesen, mit ihrer Unterschrift ihr eigenes Kind wegzugeben?,
fragte Jalicia sich. Andererseits, was hätte sie mit einem Baby anfangen sollen? »Verstehe ich Sie richtig, Mr. Tinneman? Haben Sie Angst, Padgetts Kind könnte herausfinden, dass es in eine überaus reiche Familie geboren wurde, und könnte nun seinen Anteil am Erbe beanspruchen?«
»Ich fürchte, es geht viel tiefer«, sagte Tinneman nervös.
»Wie das?«
»Mr. Long will seinen Enkel sehen, bevor er stirbt. Er ist besessen von dem Wunsch, den Jungen zu finden. Schon gerade jetzt, da Brady tot ist.«
»Und dieser Junge, sein Enkel, hat sein ganzes bisheriges Leben in einer anderen Familie zugebracht.«
»Meines Wissens könnte es eine Überraschung für ihn sein, aber ich bezweifle, dass die Eltern etwas dagegen hätten, wenn ihr Sohn unter diesen Umständen seine leibliche Verwandtschaft kennenlernt.«
Dr. Ramsby gefiel nicht, was sie zwischen den Zeilen heraushörte: weil die Longs reich waren. »Was verlangen Sie von mir?«
»Wir benötigen Hilfe, um den Jungen zu finden. Mr. Long ist bereit, sich ihm und seiner Familie gegenüber ausgesprochen großzügig zu zeigen.«
Jalicia glaubte zu verstehen. »Sie haben vor, ihm ein Angebot zu machen, ihm womöglich auszureden, dass er versucht, einen Teil des Nachlasses für sich zu fordern?«
»Bevor Sie Schlüsse ziehen, Dr. Ramsby, bedenken Sie, dass die Kosten einer Collegeerziehung erheblich, in manchen Fällen sogar nicht zu leisten sind. Ein Kind großzuziehen bringt außerdem alle möglichen Kosten mit sich, deshalb, ja, monetäre Erwägungen spielen eine Rolle. Und Mr. Long will großzügig sein. Sehr großzügig.« Sein salbungsvoller Tonfall jagte Jalicia einen Schauer über den Rücken. »Und bedenken Sie: Wird der Junge gefunden, erfährt er endlich die Geschichte seiner leiblichen Verwandtschaft, sowohl die persönliche wie auch die medizinische. Das vermittelt ihm ein Gefühl für seinen Stand in der Welt und hilft
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