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Der Zuckerkreml

Der Zuckerkreml

Titel: Der Zuckerkreml Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Sorokin
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unterschiedlichstem Publikum.
    Wen trifft man hier nicht alles an! Ausgeräucherte
     Existenzen von der geächteten Trubnaja und den umliegenden Gassen, schwarze Söldner
     von der Arbeitsbörse, Zinseintreiber aus den Pfandhäusern an der Samotjoka, Schüler
     höherer Klassen aus der Gewerbeschule No. 78, Studenten vom Architekturinstitut,
     Chinesen vom Dreifaltigkeitsmarkt, abgetakelte Clowns und Akrobaten aus dem Zirkus
     am Zwetnoi Bulwar, versoffene Mimen vom Schattentheater, Krämerinnen von den
     benachbarten Kleinmärkten, Straßenprostituierte, Nautilusse, Scharfrichter, Tölpel,
     Sbitenschenken, Kalaschbäcker und einfache Trinker.
    Das unabsehbar große, verrauchte, allzeit in einem Odem
     aus schalem Bier und Dörrfisch, Schnapsfahne und Schweiß schwimmende
     Kneipensouterrain ist streng unterteilt nach Ständen und Zünften. Hier
     beispielsweise, an dem mit hochtrabenden Versen bekritzelten und mit lebenden
     Bildern zugekleisterten Betonpfeiler, krakeelen die Studenten mit den
     Gewerbeschülern um die Wette, ein Stück weiter süffeln die Zirkusleute ihr »Bierchen
     mit Anhänger«, unter einem Baldachin aus lebendgebärendenLeuchtfasern hocken dicht gedrängt die geschwätzigen Chinesen, im Winkel neben der
     ramponierten Klimatruhe »kippeln« gackernde Händlerinnen nach getaner Arbeit, bei
     der sie sich die Beine in den Bauch gestanden, ihr Vogelbeerlikörchen, daneben
     sitzen Sbitenschenken, Kalaschbäcker und Billigfraßausträger und trinken das Ihre;
     im Durchgang, wo er am schmalsten ist, lassen grell geschminkte Dirnen, bevor sie
     raus auf den Strich gehen, einen Moosbeer durch die Kehle rinnen, und in der
     hintersten Ecke, an vier mit Mamons höchstpersönlicher Erlaubnis auf Dauer
     zusammengerückten und mit Eisenzwingen verklammerten Tischen, thronen würdevoll die
     Scharfrichter der Stadt hinter ihrem Becher »Blutige Maria«.
    Der Scharfrichtertisch in Mamons Lokal ist kein
     gewöhnlicher. Hier zu sitzen hat keiner außer den Auspeitschern und ihren Bütteln
     das Recht. Alle Gäste wissen das, und selbst an Freitagen, wenn das Lokal
     knüppelvoll ist, kommt es vor, dass der Scharfrichtertisch unbesetzt bleibt; so
     betrunken kann gar kein Sbitenschenk sein und keine Krämerin aus dem Mährischen Paradies, dass sie dort Platz zu
     nehmen riskierten.
    Heute sitzen sie am Scharfrichtertisch zu sechsen: Matwej
     Trubnikow, Spitzname: Selbstlader, Jusja Lubjanski und Schka Iwanow, dazu die
     Gehilfen: Wanja, Sobol und Michi. Matwej züchtigt am Heumarkt, Jusja, wie sein
     Zuname sagt, an der Lubjanskaja und Schka an der Pjatnizkaja, was ziemlich weit weg
     von hier ist. Matwej ist der Älteste und Erfahrenste von ihnen. Er züchtigt schon
     das neunte Jahr; an die achtzigtausend Ärsche will er unter der Knute gehabt haben.
     Ein stattlicher Mann, dieser Matwej: breitschultrig, mit Rauschebart. Und hat er
     seine zwei Mariechen intus, trägt er gut und gern ein bisschen dicker auf.
    »Wen hab ich nicht alles ausgepeitscht«, dröhnt sein gesetzter
     Bass zwischen den wohlbemessenen Schlucken. »Die gefallenen Fürsten Solodilin. Vier
     Generäle aus dem Generalstab. Den Vorsteher der Gelehrtenkanzlei. Die gräflichen
     Woronin-Schwestern wegen Verführung des minderjährigen Fürsten Dolgorukow. Des
     Gossudaren Oberschweizer Mironow wegen sträflicher Vernachlässigung von Tieren. Dazu
     all die Bojarenärsche, auf denen meine Knute tanzt, hundert pro Jahr, davon kannst
     du ausgehen.«
    Von den drei anwesenden Scharfrichtern ist Matwej der urigste, er peitscht noch mit der
     Knute. Ihr zollt er jeden Respekt, gebraucht Sprüche wie: »Die Knute ist kein
     Luzifer. Zerrt die Seele nicht aus dem Leib und spricht doch wahr.« Jusja Lubinski
     und Schka Iwanow, das muss man sehen, sind Scharfrichter der leichteren Art: Den Untertanengesäßen gerben
     sie Schuld und Sühne von Staats wegen mit der Salzrute ein. »Die Rute schärft den
     Geist und hebt das Gemüt«, so lautet ihr Lieblingsspruch. Sie sind jünger an Jahren als Matwej und mögen es, wider die
     Autorität des Alten zu sticheln und zu spötteln.
    »Bist, Matwej, du denn nicht geblendet von der illustren
     Ärsche Abglanz?«, fragt Schka Iwanow und zwinkert dabei Jusja durch die runden
     Brillengläser zu.
    »Ich lass mich schon nicht blenden, keine Bange«, erwidert
     der Alte. »Und verrenke mir nicht den Arm, so wie ihr. Mein Hieb ist seltener, aber
     er trifft. Mein Schwung taugt zehnmal mehr als

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