Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zuckerkreml

Der Zuckerkreml

Titel: Der Zuckerkreml Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Sorokin
Vom Netzwerk:
Ihnen.«
    Arina zog den Rubel aus der Gürteltasche, den sie für
     diesen Zweck hineingesteckt hatte: zweite Prägung, mit dem Profil des Gossudaren.
     Sie reichte ihn dem Mann, der ihn in die Tasche steckte.
    Es klingelte an der Tür. Der Mann hob warnend den
     Zeigefinger. Die Frau ging öffnen.
    »Guten Tag, wir kommen … äh … wegen der Blumenpflanzen«,
     hörte Arina sagen.
    Es war die Stimme des Handwerksburschen, der nach ihr
     seine Schere zum Schleifen gegeben hatte. Der Mann zog die Tür des Bücherschranks
     auf und bedeutete Arina zu folgen. Durch den Schrank traten sie in einen
     Nachbarraum, von dem wiederum sie in den Flur zurückkamen. Dort war niemand mehr,
     die Frau hatte den jungen Mann offenbar zielstrebig ins Bibliothekszimmer geführt.
     Der Gastgeber öffnete die Wohnungstür.
    »Du steigst hoch bis zum Dachboden und klopfst zweimal
     sachte an die Tür. Wenn sie dir aufmachen, sagst du: Eiweiß. Klar?«
    Arina nickte und ging aus der Wohnung. Sie fuhr mit dem
     alten, unsauberen Fahrstuhl bis in den sechsten Stock, stieg aus, sah sich um und
     ging nach hinten zur Bodentreppe, die von einer dicken Schicht Kippen bedeckt war
     und wo es übel roch. Bedächtig setzte sie ihre Schritte und gelangte zur mit
     Stahlblech verkleideten Bodentür. Sie krümmte den Finger und klopfte zaghaft an:
     einmal, zweimal. Die Tür ging sofort lautlos auf.
    »Eiweiß«, sprach Arina das Wort.
    Ein breitschultriger, rauschebärtiger Mann nickte wortlos
     und trat beiseite, um sie einzulassen. Der Boden war geräumig und nur spärlich
     beleuchtet.
    »Gehen Sie nach hinten durch«, wies der Bärtige sie an.
    Arina ging über den Beton, dessen Fugen mit Teer vergossen
     waren, bis sie eine Anzahl Leute auf dem nackten Boden sitzen sah. Sie gesellte sich
     zu ihnen. Die Leute starrten sie an.
    »Nummer fünfundzwanzig«, sagte eine dicke Frau mit einer
     Narbe im Gesicht. »Setz dich zu uns, Kind.«
    Arina sah flüchtig in die Runde und ließ sich wortlos
     neben einem Mann mit kahl rasiertem Schädel nieder.
    »Warum so spät?«, fragte der Mann mürrisch.
    »Ich … weiß nicht«, brachte Arina achselzuckend hervor.
    »Dein erstes Mal?«, fragte ein Mädchen, das hinter ihr
     hockte.
    »Ja!«, sagte Arina, sich umwendend.
    »Sie ist neu«, sagte das Mädchen dem Mann wie zur
     Erklärung.
    »Neu oder alt, was tut das«, brummelte der und sagte
     nichts weiter.
    Danach sprach eine Weile keiner mehr. Arina betrachtete
     die Sitzenden genauer. Die meisten waren schlecht oder zumindest einfach gekleidet,
     schienen aber nicht den allerärmsten Schichten anzugehören.
    Abgebrannte!, kam ihr der Verdacht.
    Kurz darauf trat auch der Handwerksbursche ein.
    »Nummer sechsundzwanzig«, konstatierte die Dicke und
     nickte ihm zu. »Setz dich, mein Schwälbchen.«
    Der junge Mann setzte sich in Arinas Nähe. Arina blickte
     ihn an. Er zwinkerte ihr zu, blieb aber ernst.
    Ein paar Minuten vergingen, dann kamen noch zwei hinzu:
     ein hinkender Alter mit Krücke am Arm einer jungen Frau.
    »Quorum!«, verkündete der Bärtige, der ihnen gefolgt war.
     Es kam Bewegung in die Runde.
    Der Bärtige und das Mädchen halfen dem alten Mann, sich
     niederzulassen. Keuchend streckte er die Beine aus und legte seine Krücke darüber.
    »Dann mal ran an den Speck, Nadeschda«, sagte der Bärtige
     und nahm neben dem Alten Platz.
    Die dicke Frau mit der Narbe zog einen flachen, kleinen
     Metallkoffer zwischen ihren Beinen hervor, klappte ihn auf und erhob sich. Arina
     bemerkte die englische Aufschrift am Koffer: VENGEANS – 28.
    Die Frau entnahm dem Koffer eine Pille, die sie dem neben
     ihr sitzenden Mann vor die Nase hielt.
    »Mund auf, Schwälbchen.«
    Bereitwillig klappte der junge Mann den Mund auf, und die
     Frau legte ihm die Pille auf die Zunge.
    Eine alte Frau mit wackelndem Kopf, die neben ihm saß,
     hielt den Mund schon offen und die Zunge herausgestreckt.
    »Wohl bekommt’s, Omilein«, sagte Nadeschda und legte eine
     Pille darauf.
    Einer nach dem anderen öffnete den Mund und schob die
     Zunge heraus. Nadeschda machte die Runde mit dem aufgeklappten Koffer in der
     Schwebe, holte die Pillen hervor und platzierte sie auf den Zungen.
    »Da habt ihr, mein Lieben, lasst es euch schmecken, meine
     Guten …«
    Schließlich kam Arina an die Reihe. Sie öffnete den Mund,
     streckte die Zunge heraus, beobachtete, wie die Frau eine Pille aus dem Koffer nahm.
     Das Innere des Koffers sah aus wie eine Bienenwabe. Die Frau brach

Weitere Kostenlose Bücher