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Der Zuckerkreml

Der Zuckerkreml

Titel: Der Zuckerkreml Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Sorokin
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eine Zelle auf,
     pulte die Pille hervor. Es mochten genau 28 Zellen sein, fiel Arina ein.
    »Nur zu, Töchterlein!«
    Nadeschda legte die Pille auf Arinas Zungenspitze und
     wandte sich dem Alten zu.
    Arina zog die Zunge mitsamt der Pille in ihre Mundhöhle zurück.
     Die Pille begann sofort zu schmelzen, was sehr angenehm war. Ein kühler, frischer
     Geschmack machte sich breit. Die schmelzende Pille kühlte die Zunge und kitzelte am
     Gaumen. Arina lutschte, sog behutsam Luft ein und schaute, wie es den anderen
     erging, die ihre Pillen eingenommen hatten. Alle saßen deutlich entspannter als
     zuvor. Manche schmatzten behaglich. Gerade legte die Frau die vorletzte Pille dem
     Bärtigen und die letzte sich selbst in den Mund, worauf sie den Koffer mit
     überraschender Vehemenz in eine Ecke schmiss. Der Bärtige hielt beide Daumen in die
     Höhe. Nadeschda ließ sich plump neben ihm fallen, umarmte ihn, klatschte übermütig
     die Hand auf seine Schulter.
    Der unweit von Arina sitzende alte Mann stöhnte und wiegte
     sein weißes Haupt. Seligkeit malte sich in seinem Gesicht, das gleich viel jünger
     schien: Die Brauen hatten sich gehoben, die Lider halb gesenkt, die saugenden Lippen
     zu einem Lächeln verzogen. Unversehens spürte Arina, wie eine angenehme Starre ihren
     Körper ergriff, und ihr wurde klar, dass sie den Blick von diesem lächelnden
     Greisengesicht nicht würde wenden können, auch wenn sie es gewollt hätte. Das
     Gesicht verjüngte sich zusehends, die Runzeln glätteten sich, die Haut wurde rosig
     und straff.
    Welch ein schönes Gesicht!, dachte Arina begeistert. Welch
     schöne Augen!
    Die Augen des Mannes waren dunkler geworden. Und sein
     Gesicht überzog sich jetzt mit braunem Fell. War das göttlich! Arina stockte der
     Atem vor Entzücken. Der Alte klappte den Rachen auf und ließ ein dumpfes Knurren
     hören, fletschte die gelben alten Hauer.
    Arina kniff die Augen zusammen, so hin und weg war sie.
     Ihr Herz pochte ohrenbetäubend. Sie riss dieAugen wieder auf. Und
     fiel schwer auf ihre vier Pfoten. Vor ihr erstreckte sich im Mondlicht ein weiter
     Platz. Im Vordergrund eine Kathedrale mit goldenen Kuppeln, weiter hinten noch
     mehrere davon. Arina witterte. Es gab jede Menge fremde, scharfe, beunruhigende
     Gerüche. Arina tat ein paar plumpe, zögerliche Schritte, ließ die Krallen über das
     Pflaster schurren. Verharrte wieder. Hob die Schnauze zum Himmel. Da waren die
     Sterne, da war ein großer runder Mond – alles, wie man es kannte. Steinerne weiße
     Zinnen gaben dem Himmel einen Saum. Auch den Geruch des Himmels kannte Arina. Er
     beruhigte und bestärkte sie. Als Arina den Kopf wieder senkte, sah sie vor sich den
     Alten und die zwei Jungen. Sie kamen eben hinter der Kathedrale hervor auf den Platz
     gelaufen. Arina brummte kurz zur Begrüßung. Die Jungen antworteten ebenso, der Alte
     witterte in die frostige Nachtluft, sog sie ein und geräuschvoll wieder aus. Noch
     mehr Junge und Alte kamen aus der Grünanlage mit den vom Schnee überpulverten
     Tannenbäumen getrottet. Arina lief ihnen entgegen. Jeder Schritt war ein Genuss. Sie
     spürte ihren zottigen, viele Pud schweren Körper, stark und seiner selbst gewiss.
     Der wollige Pelz und die Speckschicht darunter schützten ihn zuverlässig vor dem
     krachenden Frost, der ihr die Tränen in die Äuglein trieb. Sie lief quer über den
     Platz. Dort standen Alte und Junge schon beisammen. Arina lief zu einem der Alten,
     sog vorsichtig, ohne ihn zu berühren, die Luft rings um seine Schnauze ein. Der Alte
     knurrte friedlich. Arina stupste ihre Nase gegen seine bereifte Schnauze. Der Alte
     riss den Rachen auf und brummte vernehmlicher, zeigte die abgeschliffenen gelben
     Zähne. Da stupste einer der Jungen Arina ans Hinterteil. Sie fuhr herum und gab ihm
     mit der Tatze einen leichten Schlag. Der Junge prallte zurück, derweil schnappte ein
     Mädchen, kurz aufbrummend auch sie,leicht und friedfertig nach
     Arinas Schulter. Arina antwortete mit einem Scheinangriff nach deren Fuß.
     Allgemeines Beschnüffeln, freundschaftliches Brummen. Zwei Junge erhoben sich auf
     die Hinterbeine und kabbelten miteinander. Die Alte in ihrer Nähe knurrte dumpf,
     packte den einen beim Schenkel. Zwei Alte kreiselten umeinander, beschnüffelten sich
     unaufgeregt. Bald war der ganze Platz voll von ihresgleichen. Und auf einmal hielten
     alle still. Auch Arina verharrte. Ihr schien, gleich müsse etwas sehr Wichtiges
     passieren.

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