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Der Zuckerkreml

Der Zuckerkreml

Titel: Der Zuckerkreml Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Sorokin
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Scherenklingen.
    Derweil schüttelte Arina etwas Kleingeld aus ihrer Börse
     in die hohle Hand, bis sie einen Fünfer und drei einzelne Kopeken gefunden hatte,
     die sie dem Alten zusteckte.
    »Seien Sie bedankt, Väterchen.«
    »Gott behüte dich, mein Töchterlein.«
    Der Alte nahm das Geld in Empfang und gab Arina die heiße
     Schere zurück. Sie verstaute sie in ihrer Börse und diese am Gürtel.
    »Grüß dich, Alter«, hörte sie neben sich sagen.
    »Grüß dich, Junger!«, kam die Antwort vom Alten.
    Ein junger Mann stand neben ihr, der wie ein
     Handwerksbursche aussah.
    »Meine Liebste schickt mich: Sie möchte eine kleine Schere
     angeschliffen haben. Bin ich da bei dir richtig?«
    »Und ob!«
    »Was nimmst du dafür?«
    »Acht Kopeken.«
    »Bisschen viel … Na, was soll man machen.«
    Der Bursche fuhr mit der Hand in seine Tasche.
    Puterrot vor Aufregung ging Arina weiter. Sah vor sich die
     lange Gebäudefront, lief die Haustüren ab, bis sie bei Nummer 1 angelangt war. An
     der Wechselsprechanlage drückte sie den Knopf mit der 8. Sofort meldete sich eine
     weibliche Stimme.
    »Ja, bitte?«
    »Ich komme wegen der Anzeige«, sagte Arina, ihre Aufregung
     niederkämpfend. »Ich hätte gern Blumenpflanzen.«
    »Kommen Sie rein.«
    Die Tür surrte. Arina trat in den düsteren, dreckigen
     Hausflur und entdeckte gleich im Erdgeschoss die Tür mit der Nummer 8. Sie öffnete
     sich, eine ältere Frau schaute durch den Spalt.
    »Was für Pflanzen möchten Sie?«
    »Dahlien.«
    »Kommen Sie.«
    Arina betrat die Wohnung, die kaum beleuchtet und
     bescheiden eingerichtet, aber sauber war. Die Frau geleitete Arina in ein Zimmer,
     bis unter die Decke voll mit alten Büchern.
    »Was kann ich für Sie tun?«, fragte die Frau, Arina
     gegenüberstehend.
    Sie war recht dünn. Im blassen Gesicht ein Ausdruck von
     Ruhe und Gefasstheit, mit einer Spur Melancholie. Sie trug ein langes,
     hochgeschlossenes dunkelgrünes Kleid und altmodische Schuhe.
    »Ich komme von Porfiri Iwanowitsch«, tat Arina kund, die
     immer noch in großer Aufregung war. Ihre Augen hingen an der altertümlichen Brosche,
     die die Frau auf der Brust trug.
    »Und wer sind Sie?«, fragte die Frau.
    »Ich heiße Arina Lobodina. Mein Vater war Untersekretär im
     Bezirkslandamt. Vor zwei Jahren wurde er verhaftet und hat sich im Gefängnis
     erhängt. Meine Mutter und die Brüder wurden nach Mariinsk verbannt. Da sind sie
     schon ein ganzes Jahr.«
    »Ukas acht, Paragraph sechsundzwanzig?«, fragte ein
     kleiner Mann mit langem, angegrautem Haar und schmalem, bartlosem Gesicht, der
     lautlos aus einem Bücherschrank getreten war.
    »Ja«, antwortete Arina ohne zu zögern, dabei versuchte sie
     die Fassung zu bewahren. »Das war, als die Säuberungswelledurch
     die Landämter ging. Bei uns in Bolschewo wurden achtzehn Häuser niedergebrannt.«
    Der Mann musterte Arina mit einem forschenden Blick.
     »Mariinsk, wo liegt das?«
    »Bei Tschulym.«
    »Aha«, nickte der Mann und fuhr sich mit der Zunge über
     die trockenen, rauen Lippen. »Das kenne ich nicht. Hast du sie schon mal besucht?«
    »Ja, zweimal. Beim dritten Mal durfte ich nicht. Auf dem
     Bahnhof haben mich die Wackeren Burschen gleich wieder in den Gegenzug gesetzt, ich
     bekam eine Schlange an den Rücken geklebt.«
    Die Frau und der Mann wechselten einen einverständigen
     Blick.
    »Als was arbeiten Sie?«, wollte die Frau wissen.
    Arina zog die Fernspreche aus der Gürteltasche, schaltete
     ein und rief ihr Arbeitszeugnis auf: ein kleines Hologramm, in dem alle bisherigen
     Arbeitsstellen mit jeweiliger Beschäftigungsdauer aufgelistet waren.
    »Gipserin bei den Sagorjansker Klippen «, las der Mann vor. »Wurden Sie auch abgefackelt?«
    »Gleich nach der Verhaftung von Papa«, bestätigte Arina.
     »In unserem Aufgang haben sie zwei Etagen in Brand gesteckt und im Nachbaraufgang
     drei.«
    »Und wo wohnen Sie jetzt?«, fragte die Frau. Dabei ging
     sie zum Fenster, lupfte den zugezogenen Vorhang mit lebendem Lilienblütenmuster und
     spähte hinaus.
    »Entweder bei der Großmutter in Schtscholkowo oder in
     Sagorjansk im Wohnheim.«
    »Und wie gerieten Sie an Porfiri Iwanowitsch?«, fragte der
     Mann, während er eine Packung Rodina hervorzog und sich eine Zigarette anzündete.
    »Abgebrannte aus meiner Bekanntschaft haben mir auf dem
     Markt davon erzählt und die Quelle gesteckt.«
    Der Mann nickte wieder und tat einen konzentrierten Zug.
    »Dann bekomme ich einen neuen Rubel von

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