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Der Zuckerkreml

Der Zuckerkreml

Titel: Der Zuckerkreml Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Sorokin
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Alles reckte die Hälse und schnupperte in die kalte Luft. Und plötzlich
     erklang ein Ton. Ein Glockenton, dem weitere folgten: hallende Schläge auf schweres
     Metall, das in dem hohen, weißen Turm verborgen sein musste, der die Zinnenmauer
     überragte. Bommm, bommm, bommm, dröhnte es durch die frostige Nachtluft. Alles
     lauschte diesen Tönen. Auch Arina, reglos, horchte. Jeder Schlag klang ihr in den
     Zottelohren, hallte wider in den kräftigen Knochen ihres starken, massigen Körpers.
     Diese Schläge verhießen etwas – ein
     freudiges Ereignis, um dessentwillen sie sich hier versammelt hatten. Durch den
     Tränenschleier vor ihren Augen sah Arina die Turmspitze, von der die Schläge
     herabhallten. Dort glänzte im Mondlicht ein goldener doppelköpfiger Adler. Bomm,
     Bomm, Bomm, tönte der Turm. Irgendwann der letzte Schlag. Immer noch rührte sich
     keiner. Sechs Alte saßen auf den Hinterpfoten und begannen zu brummen. Dieses
     Gebrumm der Alten konnte nur eines bedeuten: Zeit zum Aufbruch! Nun fielen auch die
     übrigen ein, Arina mit ihnen, mit allen. Aufbruch! Aufbruch!, so ging ein Lauffeuer
     über den Platz. Aus dem Brummen wurde ein Brüllen. Und alles hetzte los. Arina unter
     ihresgleichen, in der Meute, stieß sich ab vom kalten Pflasterstein. Da wusste sie
     im Herzen schon, wohin die Hatz ging. Im Bogen um die Kathedrale herum rasten sie
     auf ein anderesGebäude zu. Die schweren Türen verschlossen. Aber
     wie hätten sie dem grimmigen Begehren standhalten können? Der zottige Ansturm riss
     die Türen aus den Angeln, ergoss sich über die marmornen Treppen. Im wilden Haufen
     brach Arina in die warmen Gemächer ein. Die flauschigen Tatzen schlitterten über den
     Marmor, die Krallen schlugen sich in die Teppiche. Schnaubend und fauchend drängte
     der braune Strom in die herrliche Suite. Das alte Parkett krachte unter den
     mächtigen Pranken. Vasen kippten und fielen, Marmorskulpturen schwankten,
     Kronleuchter und Kandelaber klirrten. Und da gellte auch schon eine Menschenstimme
     durch die Finsternis, ein ahnungsvoller Schreckensschrei. Die da schrie, war die
     Gossudarin. Arinas großes Herz antwortete mit einem rieselnden Schauder, süßem
     Frohlocken. Sie stürzte vorwärts, wollte die anderen von der Spitze verdrängen. Aber
     das ließen sie, die Starken und Mächtigen, beileibe nicht zu, keine Chance! Im Nu
     waren die Flüchtenden eingeholt, überrannt, auf den Teppich niedergeworfen. Ein
     Heulen und Kreischen hob an, es krachten die Knochen des Gossudaren und der
     Gossudarin und ihrer lieben Kinderlein. Fauchend und um sich schlagend schob Arina
     ihre Schnauze zwischen die Starken und Zottigen, gelangte tatsächlich an einen der
     hilflos zuckenden, süß duftenden, unbehaarten Leiber heran. Schlug die Zähne hinein,
     zerrte, brach die zarten Knochen. Riss einen Fetzen Fleisch ab und wurde sogleich
     von anderen gierigen Schlündern beiseitegedrängt. Mit rot schäumenden Lefzen schlang
     sie das noch zuckende Gewebe, verschluckte sich daran, und während sie noch würgte,
     erspähte ihr Auge hinter dem braunen Gewusel in der Dunkelheit einen kleinen
     Menschen, der dabei war, durch das Fenster zu entschlüpfen. Wie ein aufgescheuchter
     Vogel zuckte durch Arinas kleines Hirn der Gedanke: hinterher! Undsie warf sich gegen den braunen Strom, zurück zur Marmortreppe, von wo sie
     gekommen war. Fegte durch die Flucht der Gemächer, kugelte die glatten Stufen hinab,
     sprang vom letzten Treppenabsatz hinaus in die frostklare Nacht. Stand, Nase in den
     Wind, Ohren gespitzt. Und ahnte mehr, als sie es hörte, das Trappeln winziger Füße.
     Nahm die Spur auf. Flink und geschwinde wieselte das Kind über den menschenleeren
     Platz, das Entsetzen machte ihm Beine. Arina hetzte tollpatschig hinterher, kam ins
     Hecheln. Und plötzlich war der kleine Mensch weg. Arina brauchte nur kurz zu
     schnuppern, und sie wusste: Er hatte sich versteckt. Die Spur führte, wenn auch
     abgehackt, zu einer der Kanonen: der größten und ältesten. Arina hatte einen
     Verdacht. Sie robbte näher. Stellte sich auf die Hinterpfoten, spähte in den
     schwarzen Schlund des Kanonenrohrs. Und richtig: Aus der Finsternis schlug ihr der
     süße Odem des kleinen Gossudarenstammhalters entgegen. Arina zwängte die Schnauze in
     das Rohr, ließ das Gebiss klacken – vergebens; der Kleine hatte sich ganz nach unten
     verkrochen. Fauchend vor Ungeduld, stemmte sich Arina mit dem Rücken gegen die
    

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