Der Zuckerkreml
Alles reckte die Hälse und schnupperte in die kalte Luft. Und plötzlich
erklang ein Ton. Ein Glockenton, dem weitere folgten: hallende Schläge auf schweres
Metall, das in dem hohen, weißen Turm verborgen sein musste, der die Zinnenmauer
überragte. Bommm, bommm, bommm, dröhnte es durch die frostige Nachtluft. Alles
lauschte diesen Tönen. Auch Arina, reglos, horchte. Jeder Schlag klang ihr in den
Zottelohren, hallte wider in den kräftigen Knochen ihres starken, massigen Körpers.
Diese Schläge verhießen etwas – ein
freudiges Ereignis, um dessentwillen sie sich hier versammelt hatten. Durch den
Tränenschleier vor ihren Augen sah Arina die Turmspitze, von der die Schläge
herabhallten. Dort glänzte im Mondlicht ein goldener doppelköpfiger Adler. Bomm,
Bomm, Bomm, tönte der Turm. Irgendwann der letzte Schlag. Immer noch rührte sich
keiner. Sechs Alte saßen auf den Hinterpfoten und begannen zu brummen. Dieses
Gebrumm der Alten konnte nur eines bedeuten: Zeit zum Aufbruch! Nun fielen auch die
übrigen ein, Arina mit ihnen, mit allen. Aufbruch! Aufbruch!, so ging ein Lauffeuer
über den Platz. Aus dem Brummen wurde ein Brüllen. Und alles hetzte los. Arina unter
ihresgleichen, in der Meute, stieß sich ab vom kalten Pflasterstein. Da wusste sie
im Herzen schon, wohin die Hatz ging. Im Bogen um die Kathedrale herum rasten sie
auf ein anderesGebäude zu. Die schweren Türen verschlossen. Aber
wie hätten sie dem grimmigen Begehren standhalten können? Der zottige Ansturm riss
die Türen aus den Angeln, ergoss sich über die marmornen Treppen. Im wilden Haufen
brach Arina in die warmen Gemächer ein. Die flauschigen Tatzen schlitterten über den
Marmor, die Krallen schlugen sich in die Teppiche. Schnaubend und fauchend drängte
der braune Strom in die herrliche Suite. Das alte Parkett krachte unter den
mächtigen Pranken. Vasen kippten und fielen, Marmorskulpturen schwankten,
Kronleuchter und Kandelaber klirrten. Und da gellte auch schon eine Menschenstimme
durch die Finsternis, ein ahnungsvoller Schreckensschrei. Die da schrie, war die
Gossudarin. Arinas großes Herz antwortete mit einem rieselnden Schauder, süßem
Frohlocken. Sie stürzte vorwärts, wollte die anderen von der Spitze verdrängen. Aber
das ließen sie, die Starken und Mächtigen, beileibe nicht zu, keine Chance! Im Nu
waren die Flüchtenden eingeholt, überrannt, auf den Teppich niedergeworfen. Ein
Heulen und Kreischen hob an, es krachten die Knochen des Gossudaren und der
Gossudarin und ihrer lieben Kinderlein. Fauchend und um sich schlagend schob Arina
ihre Schnauze zwischen die Starken und Zottigen, gelangte tatsächlich an einen der
hilflos zuckenden, süß duftenden, unbehaarten Leiber heran. Schlug die Zähne hinein,
zerrte, brach die zarten Knochen. Riss einen Fetzen Fleisch ab und wurde sogleich
von anderen gierigen Schlündern beiseitegedrängt. Mit rot schäumenden Lefzen schlang
sie das noch zuckende Gewebe, verschluckte sich daran, und während sie noch würgte,
erspähte ihr Auge hinter dem braunen Gewusel in der Dunkelheit einen kleinen
Menschen, der dabei war, durch das Fenster zu entschlüpfen. Wie ein aufgescheuchter
Vogel zuckte durch Arinas kleines Hirn der Gedanke: hinterher! Undsie warf sich gegen den braunen Strom, zurück zur Marmortreppe, von wo sie
gekommen war. Fegte durch die Flucht der Gemächer, kugelte die glatten Stufen hinab,
sprang vom letzten Treppenabsatz hinaus in die frostklare Nacht. Stand, Nase in den
Wind, Ohren gespitzt. Und ahnte mehr, als sie es hörte, das Trappeln winziger Füße.
Nahm die Spur auf. Flink und geschwinde wieselte das Kind über den menschenleeren
Platz, das Entsetzen machte ihm Beine. Arina hetzte tollpatschig hinterher, kam ins
Hecheln. Und plötzlich war der kleine Mensch weg. Arina brauchte nur kurz zu
schnuppern, und sie wusste: Er hatte sich versteckt. Die Spur führte, wenn auch
abgehackt, zu einer der Kanonen: der größten und ältesten. Arina hatte einen
Verdacht. Sie robbte näher. Stellte sich auf die Hinterpfoten, spähte in den
schwarzen Schlund des Kanonenrohrs. Und richtig: Aus der Finsternis schlug ihr der
süße Odem des kleinen Gossudarenstammhalters entgegen. Arina zwängte die Schnauze in
das Rohr, ließ das Gebiss klacken – vergebens; der Kleine hatte sich ganz nach unten
verkrochen. Fauchend vor Ungeduld, stemmte sich Arina mit dem Rücken gegen die
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