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Der Zuckerkreml

Der Zuckerkreml

Titel: Der Zuckerkreml Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Sorokin
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Handwerkliche Arbeit
    6. Chor

    Sechs Stunden, ganz schön viel.
    Religion war seit je eins von Marfuschas Lieblingsfächern,
     der Geschichte des russischen Staates begegnete sie mit Ehrfurcht, Chinesisch lernte
     sie fleißig, in handwerklicher Arbeit zeigte sie eine schnelle Auffassungsgabe,hatte auch eine schöne Chorstimme, nur in Mathe … Die Mathematik
     war Marfuschas Sache nicht. Und auch mit ihrem Lehrer, Juri Witalewitsch, hatte sie
     es nicht leicht, o nein! Juri Witalewitsch war groß, dünn (so schmal wie ein Baojian ) und furchtbar streng. Schon in der
     ersten Klasse, als es mit der Arithmetik losging, war Juri Witalewitsch in der
     Klasse auf und ab gegangen und hatte mit schnarrender Stimme seinen Leitsatz
     aufgesagt: »Die Arithmetik, Kinder, das ist eine große Wissenschaft!« Von der
     Mathematik ganz zu schweigen … Sie zu kapieren fiel Marfuscha schwer: Schon achtzehn
     Mal hatte sie bei Juri Witalewitsch in der Ecke stehen müssen, davon sieben Mal
     kniend, viermal auf Erbsen.
    Nur kurz blätterte Marfuscha in dem verhassten
     Mathelehrbuch, ehe sie es wieder zuklappte und ins Regal schob. Manche Lehrer waren
     einfach schrecklich! Andere wieder gut und nett. Zum Beispiel der Sportlehrer Pawel
     Nikititsch. Der brauchte sie nur anzuschauen, schon schmolz sie dahin. Am liebsten
     ließ er die Mädchen um die Wette laufen. 500 Saschen Dauerlauf und 50 Saschen
     Schnelllauf. Sommers in Trachtenkleidern und winters auf Skiern. Die Mädchen rennen,
     und er feuert sie an:
    »Zieh! Zieh! Zieh!«
    Bei Marfuscha klappte das Schnelllaufen am besten –
     leichtfüßig und geschwinde, wie sie war. Zweimal hatte sie schon an Kreissportfesten
     teilgenommen. Einen vierten Platz belegt und einen sechsten.
    Sie streunte durch das Russnetz und landete doch wieder bei ihrem geliebten Guo-jie -Spiel. So verging die Zeit am
     schnellsten. Im Nu war es vier, fünf … halb sechs. Da fing Marfuschas Herz zu
     klopfen an: Es war höchste Zeit! Mama gab ihr die guten Sachen anzuziehen, band ihr
     das neue, flauschige weiße Kopftuch und bekreuzte sie.
    »Lauf, Töchterlein!«
    Mit Herzklopfen läuft Marfuscha hinunter vor das Haus. Aus allen
     sechs Aufgängen strömen festlich gekleidete Kinder. Sina Bolschowa ist dabei, Stas
     Iwanow, Sascha Guljajewa, Mascha Morkowitsch und Kolja Koslow. Gemeinsam ziehen sie
     zur Bolschaja Bronnaja, wo noch mehr Kinder sind: Dutzende, Hunderte! Als Marfuscha
     von der Puschkinskaja auf die Twerskaja biegt, sieht sie, die Straße ist in ganzer
     Breite von Kindern voll. Eine Riesentraube, die sich in Richtung Kreml schiebt.
     Erwachsene sind keine darunter, das wird nicht gern gesehen. Sie haben ihre
     Geschenke ja schon erhalten. Zu beiden Seiten begleiten berittene Ordnungshüter den
     Kinderzug. Marfuscha läuft inmitten der Menge. Ihr Herz klopft wild, dann wieder
     will es beinahe stillstehen vor Aufregung. Immer langsamer kommt der Zug voran,
     immer mehr Kinder strömen aus den Seitenstraßen dazu. Endlich sind sie auf der
     Maneschnaja Ploschtschad angelangt. Die Menge schiebt sich über den Platz, Marfuscha
     mittendrin. Noch einen Schritt und noch einen – dann betreten Marfuschas Stiefelchen
     das berühmte Kopfsteinpflaster. Wie eine Riesenraupe bewegt sich der Zug, im
     Trippelschritt. Marfuscha erschauert: Unter ihren Füßen ist der Rote Platz! Wo
     Russlands Helden geehrt, wo seine Feinde gerichtet werden! Ein langer Augenblick –
     und die großen Turmglocken auf dem Erlöserturm beginnen zu schlagen. Sechs Uhr!
     Augenblicklich kommt der Strom der Kinder zum Stehen. Der Lärm erstirbt. Ringsum
     erlöschen die Lichter. Und droben am Himmel, an den Schneewolken leuchtet riesengroß
     das Antlitz des Gossudaren.
    »Seid gegrüßt, Kinder Russlands!«, so dröhnt es über den
     Platz.
    Ein Jubel ist die Antwort, die Kinder hüpfen und winken
     und schreien. Marfuscha hüpft mit, sie staunt den Gossudaren an. Er lächelt von den
     Wolken herab,warmherzig blicken seine blauen Augen. Wie herrlich
     er ist! Wie schön und wie gut! Wie zärtlich und weise, wie mächtig und
     unerschütterlich! Russlands Oberhaupt!
    »Frohe Weihnachten, ihr lieben russischen Kinder!«
    Und auf einmal, wie von Zauberhand, kommen mitten aus den
     Wolken und dem Antlitz des Gossudaren Tausende rote Luftballons herabgeschwebt. Und
     an jedem Ballon hängt eine glänzende kleine Schachtel. Die Kinder haschen nach den
     Schachteln, hüpfen in die Höhe, zerren die Ballons zu sich heran.

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