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Der Zuckerkreml

Der Zuckerkreml

Titel: Der Zuckerkreml Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Sorokin
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Marfuscha kriegt
     einen zu fassen, zieht die Schachtel an ihre Brust. Auch die Kinder neben ihr haben
     schon eine.
    »Kinder Russlands, seid glücklich und froh!«, dröhnt die
     Stimme vom Himmel.
    Der Gossudar lächelt. Und dann ist er weg.
    Tränen der Verzückung sprudeln Marfuscha aus den Augen.
     Schluchzend presst sie die kleine Schachtel an ihre Ziegenfelljacke und lässt sich
     mit der Menge vom Roten Platz hinunterschieben, an der Basiliuskathedrale vorbei.
     Sowie sie ein bisschen Bewegungsfreiheit hat, reißt sie die lackglänzende Schachtel
     auf. Darin ist … ein Kreml aus Zucker! Ein genaues Abbild, strahlend weiß, mit allen
     Spitztürmen und Zwiebelkuppeln, samt dem höchsten Glockenturm, dem Großen Iwan, in
     der Mitte. Marfuscha hält sich den Kreml an die Lippen, küsst ihn und fängt im Gehen
     an zu lecken …

    Zu vorgerückter Stunde, da Marfuscha in ihrem Bettchen in
     den Schlaf sank, hielt sie den Erlöserzuckerturm noch immer in der klebrigen Hand.
     Unter der molligen Steppdecke war genug Platz für beide: Marfuscha und den
     Zuckerturm in ihrer zarten Kinderfaust. Nur die Turmspitze mit dem zweiköpfigen
     Adler schaute hervor. Durch das bereifteFenster schien der Mond,
     sein Licht ließ den Zuckeradler funkeln. Marfuscha betrachtete ihn hingebungsvoll,
     bis ihre müden Lider zuklappten. Was für ein großer, guter, froher Tag das gewesen
     war!
    Auch der Abend im Kreise der Familie – ein Fest. Die
     Sawarsins hatten den Zuckerkreml mitten auf den Tisch gestellt, Kerzen angezündet,
     hingeschaut und hübsch geplaudert. Schließlich hatte Papa das Hämmerchen geholt und
     den Kreml akkurat in seine Einzelteile zerlegt – jeden Turm für sich. Und Marfuscha
     verteilte die Kremltürme an ihre Familienangehörigen: Den Borowizkiturm bekam der
     Vater, den Nikolausturm die Mutter, den Kutafjaturm der Großvater, den
     Dreifaltigkeitsturm die Großmutter. Den Rüstkammerturm beschloss der Familienrat bis
     zur Geburt von Marfuschas Brüderlein aufzuheben: Sollte es ihn getrost aufschlecken,
     auf dass es groß und stark würde wie ein Recke … Die Kremlmauern aber und auch die
     Kirchen und den Glockenturm, die hatten sie gleich alle miteinander zum Tee
     verputzt.
    Während Marfuscha die Augen zufielen, schob sie sich den
     Doppelkopfadler in den Mund, legte ihn auf die Zunge und lutschte … So schlief sie
     ein und hatte einen schönen Traum.
    Sie träumte vom Gossudaren auf seinem Silberschimmel –
     schneeweiß und aus Zucker.

[Menü]
    DIE WANDERBETTLER
    Ländliche Gegend nahe Moskau, Mitte April. Das von
     den Opritschniki niedergebrannte Anwesen des Bojaren Kunizyn in der
     Abenddämmerung. Durch ein Loch im hohen Zaun kriechen mehrere Männer auf das
     Gelände: Sofron, Soplja, Wanjuscha und Frolowitsch. Sie sind Wanderbettler.
     Wanjuscha ist blind, Frolowitsch hat nur ein Bein, Soplja hinkt. Aus den
     rußgeschwärzten Ruinen des Hauses kommt eine Meute verwilderter Hunde gelaufen
     und kläfft die Bettler an.

    Soplja (hebt einen Ziegelbrocken auf, schleudert ihn nach
     den Hunden): Haut ab, ihr Bastarde!
    Wanjuscha (hält inne): Hündchen? Sogar hier?
    Frolowitsch (pfeift, fuchtelt mit der Krücke): Ksch,
     ksch, ksch!
    Die Hunde bellen, verziehen sich aber.
    Frolowitsch (reibt sich müde das Kreuz, sieht sich um): Gott im Himmel, ist das furchtbar … Kaum wiederzuerkennen! Aber das ist der
     Ort.
    Sofron: Sag ich doch, Bruderherz. Er ist es.
    Wanjuscha: Aber hattest du nicht gemeint,
     ein Kupferdach mit Hahn, Sofronjuschka?
    Sofron: Jawohl. Das war einmal. So wahr ich
     hier stehe. (Bekreuzigt sich.) Kupferdach,
     Turmgeschoss, Scheunen, Ställe, Hundezwinger. Und ein Bienenhaus mitGarten. Sechzig Stöcke! Es hat an nichts gefehlt. Dort vorne am Tor stand ein
     Wachhäuschen. Da hat der gute Aljoscha uns, Frolowitsch und mich, beherbergt. Die
     Herrschaften waren nicht da, so hat er uns über Nacht zu sich reingebeten. Ein guter
     Mensch, dieser Aljoscha.
    Frolowitsch: Fürwahr. Er ließ uns nicht nur
     ein, es gab sogar Nudelsuppe. Und für jeden einen Apfel. In dem Herbst damals
     gediehen die Äpfel prächtig, allerlei Sorten … Keine Spur mehr von alledem, weder
     vom Häuschen noch vom Wächter. Siehst du das, Sofron, welch eine Verwüstung?
    Sofron: Ist ja nicht zu übersehen.
    Soplja (schneuzt sich vernehmlich): Alles haben
     sie abgefackelt, die Halsabschneider.
    Sofron: Nicht mal das Wachhäuschen haben sie
     ausgelassen.
    Wanjuscha: Aber wer?
    Soplja

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