Der Zuckerkreml
Marfuscha kriegt
einen zu fassen, zieht die Schachtel an ihre Brust. Auch die Kinder neben ihr haben
schon eine.
»Kinder Russlands, seid glücklich und froh!«, dröhnt die
Stimme vom Himmel.
Der Gossudar lächelt. Und dann ist er weg.
Tränen der Verzückung sprudeln Marfuscha aus den Augen.
Schluchzend presst sie die kleine Schachtel an ihre Ziegenfelljacke und lässt sich
mit der Menge vom Roten Platz hinunterschieben, an der Basiliuskathedrale vorbei.
Sowie sie ein bisschen Bewegungsfreiheit hat, reißt sie die lackglänzende Schachtel
auf. Darin ist … ein Kreml aus Zucker! Ein genaues Abbild, strahlend weiß, mit allen
Spitztürmen und Zwiebelkuppeln, samt dem höchsten Glockenturm, dem Großen Iwan, in
der Mitte. Marfuscha hält sich den Kreml an die Lippen, küsst ihn und fängt im Gehen
an zu lecken …
Zu vorgerückter Stunde, da Marfuscha in ihrem Bettchen in
den Schlaf sank, hielt sie den Erlöserzuckerturm noch immer in der klebrigen Hand.
Unter der molligen Steppdecke war genug Platz für beide: Marfuscha und den
Zuckerturm in ihrer zarten Kinderfaust. Nur die Turmspitze mit dem zweiköpfigen
Adler schaute hervor. Durch das bereifteFenster schien der Mond,
sein Licht ließ den Zuckeradler funkeln. Marfuscha betrachtete ihn hingebungsvoll,
bis ihre müden Lider zuklappten. Was für ein großer, guter, froher Tag das gewesen
war!
Auch der Abend im Kreise der Familie – ein Fest. Die
Sawarsins hatten den Zuckerkreml mitten auf den Tisch gestellt, Kerzen angezündet,
hingeschaut und hübsch geplaudert. Schließlich hatte Papa das Hämmerchen geholt und
den Kreml akkurat in seine Einzelteile zerlegt – jeden Turm für sich. Und Marfuscha
verteilte die Kremltürme an ihre Familienangehörigen: Den Borowizkiturm bekam der
Vater, den Nikolausturm die Mutter, den Kutafjaturm der Großvater, den
Dreifaltigkeitsturm die Großmutter. Den Rüstkammerturm beschloss der Familienrat bis
zur Geburt von Marfuschas Brüderlein aufzuheben: Sollte es ihn getrost aufschlecken,
auf dass es groß und stark würde wie ein Recke … Die Kremlmauern aber und auch die
Kirchen und den Glockenturm, die hatten sie gleich alle miteinander zum Tee
verputzt.
Während Marfuscha die Augen zufielen, schob sie sich den
Doppelkopfadler in den Mund, legte ihn auf die Zunge und lutschte … So schlief sie
ein und hatte einen schönen Traum.
Sie träumte vom Gossudaren auf seinem Silberschimmel –
schneeweiß und aus Zucker.
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DIE WANDERBETTLER
Ländliche Gegend nahe Moskau, Mitte April. Das von
den Opritschniki niedergebrannte Anwesen des Bojaren Kunizyn in der
Abenddämmerung. Durch ein Loch im hohen Zaun kriechen mehrere Männer auf das
Gelände: Sofron, Soplja, Wanjuscha und Frolowitsch. Sie sind Wanderbettler.
Wanjuscha ist blind, Frolowitsch hat nur ein Bein, Soplja hinkt. Aus den
rußgeschwärzten Ruinen des Hauses kommt eine Meute verwilderter Hunde gelaufen
und kläfft die Bettler an.
Soplja (hebt einen Ziegelbrocken auf, schleudert ihn nach
den Hunden): Haut ab, ihr Bastarde!
Wanjuscha (hält inne): Hündchen? Sogar hier?
Frolowitsch (pfeift, fuchtelt mit der Krücke): Ksch,
ksch, ksch!
Die Hunde bellen, verziehen sich aber.
Frolowitsch (reibt sich müde das Kreuz, sieht sich um): Gott im Himmel, ist das furchtbar … Kaum wiederzuerkennen! Aber das ist der
Ort.
Sofron: Sag ich doch, Bruderherz. Er ist es.
Wanjuscha: Aber hattest du nicht gemeint,
ein Kupferdach mit Hahn, Sofronjuschka?
Sofron: Jawohl. Das war einmal. So wahr ich
hier stehe. (Bekreuzigt sich.) Kupferdach,
Turmgeschoss, Scheunen, Ställe, Hundezwinger. Und ein Bienenhaus mitGarten. Sechzig Stöcke! Es hat an nichts gefehlt. Dort vorne am Tor stand ein
Wachhäuschen. Da hat der gute Aljoscha uns, Frolowitsch und mich, beherbergt. Die
Herrschaften waren nicht da, so hat er uns über Nacht zu sich reingebeten. Ein guter
Mensch, dieser Aljoscha.
Frolowitsch: Fürwahr. Er ließ uns nicht nur
ein, es gab sogar Nudelsuppe. Und für jeden einen Apfel. In dem Herbst damals
gediehen die Äpfel prächtig, allerlei Sorten … Keine Spur mehr von alledem, weder
vom Häuschen noch vom Wächter. Siehst du das, Sofron, welch eine Verwüstung?
Sofron: Ist ja nicht zu übersehen.
Soplja (schneuzt sich vernehmlich): Alles haben
sie abgefackelt, die Halsabschneider.
Sofron: Nicht mal das Wachhäuschen haben sie
ausgelassen.
Wanjuscha: Aber wer?
Soplja
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