Der Zug War Pünktlich
lächeln. »Von heute ab«, sagt sie leise, »von jetzt ab wer- de ich keinen Unschuldigen mehr den Henkersknechten ausliefern. Ach, du mußt mir vertrauen. Es wäre nicht zu schwer gewesen mit dir allein. Einfach irgendwo halten zu lassen und fliehen … weg! Frei … und weg! Aber mit deinen beiden, das wird nicht gehen.«
»Gut, dann mußt du mich allein lassen. Nein«, er hebt den Arm, um sie zum Schweigen zu bringen, »ich sage dir nur: verhandeln kann ich nicht darüber. Entweder – oder. Du mußt das verstehen, ja«, sagt er in ihre ernsten Augen hinein, »du hast sie doch geliebt, manche, du mußt das verstehen, nicht wahr?«
Langsam und schwer sinkt Olinas Kopf auf die Brust, und Andreas begreift erst, daß das ein Nicken ist, als sie sagt: »Gut … ich will es versuchen …«
Während Olina, die Tür in der Hand, auf ihn wartet, überblickt er noch einmal diese schmutzige, kleine, polni- sche Bar, dann folgt er ihr in den mattbeleuchteten Flur. Aber selbst das Zimmer, die Bar, war noch glänzend ge- gen diesen Flur am Morgen. Dieser höhnische, kalte, graue Morgendunst im Flur eines Bordells, um vier Uhr. Diese Zimmertüren wie in einer Kaserne, alle gleich. Alle gleich schäbig. Und diese elende, elende Armseligkeit.
»Komm«, sagt Olina. Sie stößt eine dieser Türen auf, und da ist ihr Zimmer: sehr kläglich mit den Notwendig-
keiten ihres Handwerks; ein Bett, ein kleiner Tisch und zwei Stühle und eine Waschschüssel, die in einem dünn- beinigen Dreifuß ruht, neben dem Dreifuß eine Wasser- kanne und ein kleiner Schrank an der Wand. Nur das Notwendigste, wie in einer Kaserne …
Es ist alles so unwirklich, auf dem Bett zu sitzen und zu- zusehen, wie Olina ihre Hände wäscht, wie sie aus dem Schrank Schuhe nimmt, ihre roten Pantoffeln abstreift und die Schuhe überzieht. Ach, da ist auch ein Spiegel, in dem sie ihre Schönheit erneuern kann. Sie hat die Tränenspuren wegzuwischen und neu sich zu pudern, denn es gibt nichts Schaurigeres als eine verweinte Hure. Sie muß neues Rot auf die Lippen legen und die Augenbrauen nachziehen, die Fingernägel säubern, alles das geht flink wie bei einem Soldaten, der sich alarmbereit macht.
»Du mußt Vertrauen haben«, sagt sie im verständlich- sten Plauderton, »ich werde dich retten, hörst du? Es wird schwer sein, wenn du die anderen unbedingt mitnehmen willst, aber ich werde es können. Man kann viel …«
Laß mich nicht verrückt werden, betet Andreas, laß mich nicht verrückt werden an diesem grausamen Versuch, die Wirklichkeit zu begreifen. Das alles kann nicht sein, die- ses Bordellzimmer, schäbig und fahl im Morgen, voll gräßlicher Gerüche, und dieses Mädchen da im Spiegel, das leise etwas summt, mir vorsummt, während ihre Fin- ger geschickt das Rot der Lippen erneuern. Das kann nicht sein und dieses mein müdes Herz, das nichts mehr wünscht, und diese meine schlaffen Sinne, die nichts mehr begehren, nicht rauchen wollen, nicht essen wollen, nicht trinken wollen, und meine Seele, die aller Sehnsucht be- raubt ist, nur schlafen möchte, schlafen …
Vielleicht bin ich schon tot. Wer kann das begreifen
hier, diese Bettwäsche, die ich automatisch zurückge- schlagen habe, wie es sich gehört, wenn man sich schon auf ein Bett setzt, diese Bettwäsche, die nicht schmutzig ist und auch nicht sauber, diese grauenhaft geheimnisvolle Bettwäsche, nicht schmutzig und nicht sauber … und die- ses Mädchen, da am Spiegel, das nun seine Brauen färbt, schwarze, feine Brauen auf einer blassen Stirn.
»Da wollen wir fischen und jagen froh als wie in alter Zeit! Kennst du das?« fragt Olina lächelnd. »Das ist ein deutsches Gedicht. Archibald Douglas. Es handelt von ei- nem Mann, der verbannt war aus seinem Vaterland, ver- stehst du? Und wir, wir sind verbannt in unser Vaterland, mitten hinein in ein Vaterland, das begreift keiner. Jahr- gang neunzehnhundertzwanzig. Da wollen wir fischen und jagen froh als wie in alter Zeit. Hör zu!« Sie summt wirk- lich diese Ballade, und Andreas denkt, daß das Maß nun voll ist, ein grauer kalter Morgen in einem polnischen Bordell, und eine Ballade, von Löwe vertont, die ihm vor- gesummt wird …
»Olina!« wieder diese gleichmäßige Stimme vor der Tür.
»Ja?«
»Die Rechnung. Reich sie doch heraus. Und mach dich fertig, der Wagen ist schon vorgefahren …«
Das also ist die Wirklichkeit, daß das Mädchen nun den Zettel hinausreicht, mit sehr spitzen Fingern, einen Zettel, auf dem alles
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