Der zugeteilte Rentner (German Edition)
sie schon im Raum.
Sofort streichelte sie den Dackel, marschierte zum Kühlschrank, holte sich eine Cola, einen Müsli-Riegel, zwei vegetarische Tofu-Würste, einen Vanille-Sahne-Joghurt und die Reste vom Vortag: Reis mit Gemüse und irgendwas Indischem. Erst dann wandte sie sich dem alten Mann zu.
„Ich soll auf Sie aufpassen“, kaute sie die Worte, klemmte sich das Essen unter den Arm und marschierte zum Tisch.
„Wer sind Sie?“
„Ich bin Zoe!“, erklang eine dunkle Stimme. „Clara hat mich angerufen. Sie macht sich Sorgen, Sie könnten etwas anstellen!“
„Ich bin übrigens Maximilian Himmel, der zugeteilte Rentner von Frau Januszewski.“
„Ich weiß!“
„Darf ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee, eine Suppe oder irgendetwas, was Sie noch nicht in den Händen halten?“
„Sie sollen gar nichts anfassen. Setzen Sie sich einfach hin und machen sie das, was Sie sonst so machen, wie Fernsehen. Und? Was machen Sie so?“
„Fernsehen!“
Zoe ging zum Kühlschrank, holte sich eine zweite Flasche Cola heraus und betrachtete Maximilian, der sich zwischenzeitlich aufs Sofa gesetzt hatte.
„Kann man sich eigentlich auch andere Leute zuteilen lassen? Zum Beispiel gut gebaute, reiche Männer?“
„Nein, ich denke, die haben nur Rentner im Angebot: alt und gebrechlich.“
Zoe nahm einen großen Schluck aus der Cola und setzte sich auf den einzigen Stuhl im Raum, dann massierte sie ihre Schläfen und legte ihren Kopf in den Nacken.
„Warum ist es hier so kalt?“
„Die Heizung geht nicht – wann kommt Clara wieder?“
„Keine Ahnung! Ich hoffe bald! Ich bin nicht gut im Babysitten!“
Eine Weile beobachtete Zoe den alten Mann, es war keine nette Geste, sie besaß diese schmalen Augen, die sie so stark zusammenpresste, dass kein Weiß mehr zu sehen war. Dabei blies sie die Backen auf und sah aus wie ein Kugelfisch.
„Und was machen Sie sonst so? Als Rentner?“
„Nichts!“
„Sie müssen doch etwas machen. Sie können doch nicht den ganzen Tag Fernsehen.“
„Warum sagen Sie das? Den ganzen Tag Fernsehen? Natürlich kann ich das. Was ist so falsch daran? Würden so viele Menschen TV gucken, wenn es falsch wäre?“
Für einen Augenblick überlegte er, dann schoss es aus ihm heraus: „Ich sammle auch!“
Maximilian lehnte sich nach vorne, zog aus seinem Koffer ein kleines Album und klappte es aus. Die Innenseiten waren ganzseitig beklebt mit Lebensmitteletiketten für Champions, Erbsen, Karotten, Hackfleischbällchen, Salami, Käse, Peperoni, Oliven, getrocknete Zwiebeln, Putzmittel, Spüli, Limonade, Kaugummi und Schokolade. Für Maximilian war das Ganze mehr als nur ein Hobby. Er kannte alle Farbstoffe und Zusätze, konnte sie in alphabetischer Reihenfolge aufsagen und das sogar in zwanzig verschiedenen Sprachen – obwohl das Chinesisch bei ihm etwas eigenartig klang, mehr wie Russisch. Doch ganz gleich, in welchem Land er sich befände, er könnte die Etiketten lesen.
Zoe nahm einen Schluck Cola zu sich, verfolgten ihn aber mit den Augen. Als ein Polizeiwagen mit tönendem Martinshorn durch die Straße raste, zuckte er kurz zusammen. Kamen sie wegen ihm? Hatte Clara die Polizei verständigt? Zoe sollte ihn vielleicht festhalten. Die Sirenen kamen immer näher. Vielleicht hatte Finn sie verständigt? Aber würden sie gleich mit der Polizei anrücken? Für einen Augenblick klang es so, als stoppte der Polizeiwagen. Doch der Wagen fuhr weiter und die Sirene verschwand mit der Zeit in der Ferne.
Zoe musterte ihn noch immer. Dann stand sie auf, stampfte zum Fernseher und zog unter einer Ansammlung von Kabeln eine Playstation heraus.
„Lust auf ein Spiel?“
„Das habe ich schon lange nicht mehr gemacht. Ich weiß nicht!“
„Wir haben ein Spiel mit einem kleinen süßen Drachen oder ein Autorennen bei dem man schießen kann.“
„Dann lieber das Autorennen!“
„Wollen Sie schießen oder fahren?“
„Schießen!“
Ein kurzer Augenblick später saßen die beiden auf der Couch und spielten. Während Zoe einen hochgetunten Firebird über Straße und Wege steuerte, nahm sich Maximilian die Konkurrenz vor. Abwechselnd feuerte er mit einer doppelläufigen Schrotflinte und einem AK-47 Sturmgewehr auf LKWs, Rennwagen, Motorradfahrer und herbeieilende Polizisten. Die Bilder sausten an ihnen vorbei. Jede minimale Fingerbewegung setzte atemberaubende Aktionen in Gang. Feuer, Wasser, Metall und Gras flog auf den Bildschirm zu. Doch die beiden ließ es kalt. Sie folgten dem Geschehen mit der gleichen Ruhe, wie sie
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