Der zugeteilte Rentner (German Edition)
Gefängnis, kehrte am nächsten Tag zurück und alles fing von vorne an. Mit anderen Worten: Er gehörte zu den Nachbarn, die man niemals um Milch bat und schon gar nicht um einen Gefallen. Trotz alledem blieb er der einzige Nachbar, der in Frage kam. Auf der anderen Seite zu ihrer Wohnung lebte nur ein 50jähriger Single, dessen Mutter vor ein paar Monaten gestorben war und der sich jetzt noch ruhiger verhielt als vorher. Vielleicht war er tot, Clara hatte ihn schon lange nicht mehr gesehen, eigentlich hatte sie ihn nie gesehen. Im Aufzug belauschte sie nur einmal ein paar Nachbarn, die sich über ihn unterhielten. „83 C“ nannten sie ihn – Single, Mutter gestorben, nie mit einer Frau zusammen, besaß ein paar Katzen; der Chinese aus dem Erdgeschoss kannte ihn angeblich näher.
C. Buchholz dagegen war ständig präsent. Sie hörte ihn, sie traf ihn im Flur, im Keller, bei den Mülltonnen – er hat sogar schon einmal bei ihr geklingelt, weil er Zigaretten wollte; sie war aber Nichtraucherin. Pech für ihn.
Clara klingelte. Sofort setzte sich eine Geräusch-Maschinerie in Gang: Geschirr klapperte, Möbel wurden gerückt und eine Frau schrie: „Es hat geklingelt!“, ein Mann antwortete: „Ich bin doch nicht taub!“, die Frau: „Ich sag’s dir nur!“, der Mann: „Ach, halt doch’s Maul!“.
Sie rückten etwas von der Tür weg, dann öffneten sie langsam und ein behaartes Gesicht zeigte sich. Die Augen pressten sich zu kleinen Schlitzen, das Gesicht faltig und narbig, der Vollbart zerzaust, die Haare standen so wie sie es wollten. Eine trockene Zunge schob sich zwischen den dünnen Lippen hervor und benetzte langsam die untere.
„Ja?“
„Hallo, ich bin ihre Nachbarin!“
„Na, und?“
Einen Augenblick zögerte sie. Vielleicht machte sie einen Fehler, vielleicht ging sie zu weit. Aber ließ er ihr eine andere Wahl?
„Ich wollte Sie um einen Gefallen bitten, einen etwas ungewöhnlichen.“
„Wenn es um den Dreck vor dem Aufzug geht, der ist nicht von mir.“
„Nein, nein! Wissen Sie, ich habe derzeit einen Gast, der, sagen wir mal, nicht mehr gehen möchte …“
„Soll ich ihm paar aufs Maul hauen?“
In dem Augenblick erkannte Clara das Gesicht einer Frau in der Wohnung. Sie schien neugierig und streckte sich, um Clara besser zu sehen. Ein dunkler Fleck betonte ihr rechtes Auge.
„Ich mach das! Ich hau ihm einfach paar aufs Maul! Fertig!“, fuhrt Buchholz fort und ballte seine Faust. „Der kommt nicht wieder! Einfach paar drauf.“
„Ich denke, das ist nicht nötig. Aber gut zu wissen, dass Sie es könnten. Vielleicht ein anderes Mal.“
Der Mann blickte an ihr vorbei, seine Augen schauten in eine andere Richtung, so als beobachtete er eine Person, die hinter ihr stand. Clara drehte sich um, doch sie befand sich allein im Flur.
„Wissen Sie“, fuhr sie fort. „Vielleicht könnten Sie einfach ein bisschen Lärm machen, so gegen die Wand schlagen oder schreien oder so.“
„Ich soll Lärm machen?“
„Ja!“
„Kann ich machen!“
„Ich würde Ihnen auch Geld dafür geben!“
„Brauchen Sie nicht. Das mach ich für meine Nachbarn umsonst. Aber … ein paar Zigaretten wären nicht schlecht, und Bier“, er drehte sich um. „Elli, willst’d’a was? Die Nachbarin hat gefragt!“
Ein lauter dumpfer Schlag. Weitere gegen die Wand folgten, fast wie der Rhythmus der ersten vier Noten von Beethovens 5. Sinfonie oder einfach der halbe SOS-Morsecode.
Maximilian saß vor dem Fenster und streckte sich aus. Wieder ein Schlag gegen die Wand, diesmal wackelte ein aufgehängtes Bild.
In dem Augenblick betrat Clara das Wohnzimmer, sie wollte nur in die Küche, was zum Essen machen. Maximilian sah sie an und deutete mit dem Finger auf die Wand, die zu den Nachbarn und zu den Geräuschen führte.
„Die Nachbarn“, meinte sie und zuckte mit den Schultern. „Das passiert öfters!“
„Das ist ja furchtbar, soll ich mal mit denen reden?“
„Das bringt nichts! Hab schon alles versucht, Hausmeister, Anwälte. Gegen die kann man nichts machen. Furchtbare Leute. Die haben sogar schon den Hund des Hausmeisters vergiftet, einfach so. War ihnen zu laut.“
Maximilian überlegte eine Weile, rückte noch tiefer in die Couch und stellte schließlich den Fernseher lauter, um die Geräusche aus der Nachbarswohnung zu übertönen. Seine gesamte Konzentration bündelte er auf den Fernseher. Es pochte und hämmerte gegen die Wand, einmal schrie sogar der Nachbar, aber Maximilian ignorierte das und stellte den
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