Der Zusammenbruch
schrie dazwischen, sie hätte ihn aber doch gesehen, auf dem Fußwege, mit einem großen Loch mitten vor der Stirn; ihr Vater gab ihr eine Ohrfeige, um sie zum Schweigen zu bringen, weil sie ganz sicher löge, wie er meinte. Das Haus, ja, das hatte noch gestanden, als sie geflohen wären; sie erinnerten sich sogar, im Vorbeilaufen gesehen zu haben, daß Fenster und Türen sorgfältig geschlossen gewesen wären, als ob keine Seele mehr drin wäre. Zu der Zeit hätten die Bayern übrigens auch erst den Kirchenplatz besetzt gehabt und hätten den Ort, Straße für Straße, Haus bei Haus, erkämpfen müssen. Allein sie wären wohl vorwärts gekommen, denn jetzt brannte sicherschon ganz Bazeilles. Und so fuhren die unglücklichen Leute fort, ihre Geschichte zu erzählen, und beschworen mit ihrem vor Furcht unsicher gewordenen Gebärden dies gräßliche Gesicht wieder herauf, wie die Dächer flammten, das Blut in Bächen floß und Tote die Erde bedeckten.
»Und mein Mann?« fragte Henriette wieder.
Sie antworteten nicht mehr, sondern schluchzten nur noch zwischen den gefalteten Händen. Da hielt sie sich in grausiger Angst, aber ohne schwach zu werden, aufrecht; nur ihre Lippen bewegte ein leichtes Zittern. Was sollte sie glauben? Was nutzte es, daß sie sich einredete, das Kind hätte sich getäuscht; sie sah ihren Mann doch mit von einer Kugel durchbohrter Stirn auf der Straße liegen. Dann beunruhigte sie wieder dies völlige Abgeschlossensein ihres Hauses; warum? War er denn nicht mehr da? Die Gewißheit, daß er getötet sei, ließ ihr Herz mit einem Schlage zu Eis erstarren. Aber vielleicht war er nur verwundet; und der Drang, zu ihm zu gehen, dort zu sein, ergriff sie wiederum so gewaltig, daß sie aufs neue versucht hätte, sich ihren Weg zu bahnen, wenn nicht in diesem Augenblick die Hörner das Zeichen zum Vorrücken gegeben hätten.
Viele dieser jungen Mannschaften kamen aus Toulon, Rochefort oder Brest, waren nur kurz ausgebildet und hatten noch keinen Schuß abgefeuert; seit heute morgen aber schlugen sie sich mit der Tapferkeit und Festigkeit alter Soldaten. Sie, die von Reims bis Mouzon unter der Last des Ungewohnten so schlecht marschiert waren, zeigten jetzt vor dem Feinde um so besser Manneszucht und schienen um so fester durch ein brüderliches Band von Pflicht und Selbstverleugnung verbunden. Die Hörner brauchten nur zu ertönen, und sie kehrten ins Feuer zurück, sie nahmen den Angriff wieder auf,wenn ihre Herzen auch von Zorn geschwellt waren. Dreimal war ihnen eine frische Division zu ihrer Unterstützung versprochen worden und kam nicht. Sie fühlten sich verlassen, hingeopfert. Das Leben eines jeden von ihnen wurde verlangt, indem sie so wieder nach Bazeilles hineingeschickt wurden, nachdem sie es vorher hatten aufgeben müssen. Und das wußten sie und gaben ihr Leben doch ohne Widerspruch hin; sie schlossen ihre Reihen und traten hinter den schützenden Bäumen hervor, um aufs neue gegen die Kugeln und Granaten vorzustürmen.
Henriette entrang sich ein tiefer Seufzer der Erleichterung. Endlich gingen sie vor! Sie folgte ihnen und hoffte mit ihnen hineinzukommen, sie wollte laufen, wenn sie liefen. Aber sie mußten schon wieder halten. Jetzt regnete es Geschosse, und um Bazeilles wieder zu besetzen, wurde es notwendig, jeden Meter Weges zu erkämpfen, jedes Gäßchen, jedes Haus, jeden Garten rechts und links zu erobern. Die ersten Reihen hatten das Feuer eröffnet, es ging aber nur sprungweise weiter, die geringsten Hindernisse verursachten den Verlust langer Minuten. So würde sie nie hinkommen, wenn sie so hintenan bliebe und auf ihren Sieg wartete. Entschlossen warf sie sich rechts zwischen zwei Hecken auf einen nach den Wiesen hinunterführenden Pfad.
Henriettes Plan war jetzt, Bazeilles über die weiten, die Maas einfassenden Wiesen zu erreichen. Übrigens war sie sich über das Wie selbst noch nicht ganz klar. Plötzlich blieb sie am Rande eines kleinen unbeweglichen Meeres stehen, das ihr auf dieser Seite den Weg versperrte. Das war die Überschwemmung, die Verwandlung des tiefliegenden Geländes in einen See zu Verteidigungszwecken, und an die hatte sie gar nicht gedacht. Einen Augenblick wollte sie umkehren;dann setzte sie ihren Weg fort auf die Gefahr hin, ihre Schuhe dabei einzubüßen, und ging in dem feuchten Gestrüpp, in dem sie bis an die Knöchel einsank, am Rande hin. Etwa hundert Meter weit war das durchführbar. Dann stieß sie auf eine Gartenmauer; hier senkte sich das
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