Der Zusammenbruch
Schwierigkeiten, und so ging es fast einen Kilometer weit über Mauern hinweg, durch Hecken hindurch, alle möglichen Richtwege, durch Türen von Schuppen und Fenster von Wohnungen, wie der Zufall ihnen gerade einen Weg bahnte. Hunde heulten, und fast wären sie von einer Kuh umgerannt worden, die in wütender Jagd davonsauste. Sie mußten aber doch wohl näher herankommen,Brandgeruch schlug ihnen entgegen, große rötliche Wolken verhüllten alle Augenblicke wie leicht schwebende Schleier die Sonne.
Mit einem Male blieb der Junge stehen und pflanzte sich vor Henriette auf.
»Sagen Sie mal, meine Dame, wo wollen Sie denn eigentlich hin?«
»Das siehst du doch, ich gehe nach Bazeilles.«
Er pfiff und lachte laut auf wie ein Taugenichts, der die Schule schwänzt und recht vergnügt ist.
»Nach Bazeilles ... Ach ne! das ist nichts für mich ... Ich geh' woandershin! n' Abend auch!«
Er drehte sich auf den Hacken um und ging wie er gekommen war, ohne daß sie hätte sagen können, wo er herkam oder wo er hinging. In einem Loche hatte sie ihn gefunden und an einer Mauerecke verlor sie ihn aus den Augen; nie sollte sie ihn wiedersehen.
Als sie nun allein war, empfand sie ein eigenartiges Angstgefühl. Dieser schwatzhafte Junge war ihr ja kaum ein Schutz gewesen; aber mit seinem Gerede betäubte er sie. Nun zitterte sie, trotzdem sie von Haus aus doch so mutig war. Es fielen keine Granaten mehr; die Deutschen hatten ihr Feuer auf Bazeilles eingestellt, da sie zweifellos befürchteten, ihre eigenen Leute zu treffen, die jetzt Herren von Bazeilles waren. Aber seit ein paar Minuten hörte sie Kugeln pfeifen; es war ihr erzählt worden, sie summten wie große Fliegen, und daran erkannte sie sie. In der Ferne erschallte ein so wütendes Getöse, daß sie bei der Heftigkeit des Lärmes selbst das Gewehrfeuer nicht klar unterscheiden konnte. Als sie um eine Hausecke bog, hörte sie dicht neben ihrem Ohr ein mattes Geräusch, dem das Herabrieseln von Putz folgte, so daß siewie angewurzelt stehenblieb: eine Kugel hatte neben ihr eine Kante aus dem Hause herausgeschlagen, und sie blieb ganz blaß stehen. Ehe sie sich dann noch fragen konnte, ob sie wohl Mut genug habe, um weiter vorzudringen, empfand sie etwas wie einen Hammerschlag vor die Stirn und fiel betäubt in die Knie. Eine zweite Kugel war abgeprallt und hatte sie etwas über der linken Augenbraue gestreift, hinterließ aber nur eine starke Quetschung. Als sie die Hände von der Stirn wieder wegnahm, waren sie rot von Blut. Sie fühlte indessen mit den Fingern, daß der Schädel noch heil und fest sei, und sagte ein paarmal ganz laut, um sich wieder Mut zu machen:
»Das ist ja nichts, das ist ja nichts ... Paß mal auf, ich habe keine Angst, nein! ich habe keine Angst...«
Und das war wahr, sie schritt von jetzt an durch den Kugelregen mit der Unbekümmertheit eines gänzlich von allem losgelösten Wesens dahin, das überhaupt nicht mehr überlegt, das einfach sein Leben dahingibt. Sie suchte sich auch gar nicht mehr zu schützen, sondern ging erhobenen Hauptes geradeaus, und wenn sie sich beeilte, geschah es bloß, um rascher hinzukommen. Rund um sie herum schlugen Geschosse ein; sehr oft hätte sie getötet werden können und schien es gar nicht zu bemerken. Ihre leichtfüßige Eile, die ihr eigene Geschäftigkeit einer schweigsamen Frau schienen ihr zu Hilfe zu kommen und sie in ihrer zarten Gebrechlichkeit durch die Gefahr zu geleiten, so daß sie ihr entging. Endlich war sie in Bazeilles und schlug einen Richtweg durch ein Kleefeld ein, um wieder auf ihren Weg, die große, durch den ganzen Ort laufende Straße zu kommen. Als sie in diese einbog, sah sie rechts vor sich, in etwa zweihundert Metern, ihr Haus brennen, ohne daß sie bei dem hellen Sonnenschein Flammen entdecken konnte; das Dach war schon halb eingebrochen und die offenen Fensterspien Wirbel von schwarzem Rauch aus. Da riß es sie wie rasend vorwärts und sie lief, daß ihr der Atem ausging.
Seit acht Uhr war Weiß hier eingeschlossen gewesen, von den sich zurückziehenden Truppen getrennt. Mit einem Schlage war ihm nun der Rückweg nach Sedan unmöglich gemacht, denn die aus dem Park von Montivillers hervorbrechenden Bayern schnitten ihm seine Rückzugslinie ab. Er war mit seinem Gewehr und den ihm verbliebenen Patronen ganz allein, als er vor seiner Tür etwa ebenso wie er zurückgebliebene Soldaten bemerkte, die von ihren Kameraden abgeschnitten waren und mit den Augen einen Unterschlupf
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