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Der Zusammenbruch

Der Zusammenbruch

Titel: Der Zusammenbruch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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und schlossen die Umklammerung.
    Mit einemmal wurde Jean niedergestreckt.
    »Ich hab' mein Teil«, stammelte er.
    Wie mit einem Hammer hatte er einen Schlag oben auf den Kopf gekriegt, sein Käppi wurde fortgeschleudert und lag zerrissen hinter ihm. Zuerst glaubte er, der Schädel sei ihm aufgeschlagen und das Gehirn läge bloß. Ein paar Sekunden lang mochte er die Hand gar nicht hinaufführen, weil er sicher war, ein großes Loch zu fühlen. Als er es dann doch wagte,brachte er die Hand rot von Blut wieder zurück. Das machte einen so starken Eindruck auf ihn, daß er ohnmächtig wurde.
    Gerade jetzt gab Rochas den Befehl zum Rückzug. Eine preußische Kompanie war nur noch zwei- oder dreihundert Meter weit entfernt. Sie mußten gefangengenommen werden.
    »Beeilt euch nicht, dreht euch um und schießt langsam ... Wir sammeln uns da hinten hinter der kleinen Mauer.«
    Nun geriet Maurice in Verzweiflung.
    »Herr Leutnant, wir können doch unsern Korporal hier nicht liegen lassen?«
    »Was wollen Sie mit ihm anfangen, wenn er sein Teil weg hat?«
    »Nein, nein, er atmet ja noch! ... Wir wollen ihn doch mitnehmen!«
    Rochas zuckte die Achseln, als wollte er damit sagen, man könne sich doch nicht um jeden einzelnen Gefallenen kümmern. Wer verwundet ist, zählt auf dem Schlachtfelde nicht mehr mit. Flehend wandte sich Maurice nun zu Pache und Lapoulle.
    »Kommt, helft mir doch! Ich allein bin ja zu schwach.«
    Aber sie hörten nicht hin, sie verstanden ihn gar nicht; in überreiztem Selbsterhaltungstrieb dachten sie nur noch an sich selbst. Schon glitten sie auf den Knien dahin und verschwanden auf die kleine Mauer zu. Die Preußen waren keine hundert Meter mehr entfernt.
    Maurice heulte vor Wut, als er nun mit dem ohnmächtigen Jean allein blieb; er packte ihn auf seine Arme und wollte ihn wegschleppen. Er war aber tatsächlich zu schwach und schmächtig und von Ermattung und Angst erschöpft. Er kam gleich ins Taumeln und fiel unter seiner Last hin. Hätte ernoch einen Träger sehen können! Mit irren Blicken suchte er umher und glaubte unter den Fliehenden welche zu erkennen, denen er heftige Gebärden zumachte. Niemand kam. Er raffte seine äußersten Kräfte zusammen, nahm Jean wieder auf und lief mit ihm etwa dreißig Schritte weit; dann barst eine Granate neben ihnen, und er glaubte, nun sei alles vorbei, auch er müsse auf dem Körper seines Gefährten sterben.
    Langsam war Maurice wieder aufgestanden. Er tastete an sich herum und fühlte nichts, keine Schramme. Warum floh er denn nicht? Zeit hatte er noch; in ein paar Sprüngen konnte er die kleine Mauer erreichen, und das bedeutete Rettung. Die Furcht stieg wieder in ihm hoch und machte ihn närrisch. Mit einem Satze konnte er hinüberrennen, aber stärkere Bande als der Tod hielten ihn zurück. Nein, das ging unmöglich, er konnte Jean nicht im Stiche lassen. Sein ganzes Selbst hätte sich darüber verblutet; die zwischen dem Bauern und ihm sich immer mehr vertiefende Brüderlichkeit ging bis auf den Grund seines Wesens, ja bis an die Wurzeln seines Lebens. Das mochte vielleicht bis auf die ersten Tage der Welt zurückgehen, und es war ein wenig so, als wären nur diese beiden Menschen dagewesen und der eine hätte den andern nicht aufgeben können, ohne sich selbst aufzugeben.
    Hätte Maurice nicht vor einer Stunde seine Brotrinde im Granatenhagel gegesssn, nie wäre er zu dem imstande gewesen, was er jetzt vollbrachte. Später war es ihm übrigens ganz unmöglich, sich daran zu erinnern. Er mußte Jean auf die Schultern nehmen und sich mit ihm in unzähligen Absätzen über die Stoppeln und durch das Gestrüpp schleppen, wobei er an manchen Stein anstieß; aber trotzdem kam er immer wieder hoch. Ein unüberwindlicher Wille hielt ihn aufrecht, eine Widerstandskraft, die ihn einen Berg hätte tragenlassen. Hinter der kleinen Mauer fand er Rochas und die paar Mann der Korporalschaft wieder, die immer noch feuerten und die Fahne verteidigten, die der Unterleutnant im Arme hielt.
    Den Truppen war für den Fall eines unglücklichen Ausganges keine Rückzugslinie angegeben worden. Bei diesem Mangel an Voraussicht und in der hochgradigen Verwirrung besaß jeder General die Freiheit, nach Gutdünken zu handeln, und alle sahen sich jetzt unter der furchtbaren Umklammerung der siegreichen deutschen Heere nach Sedan hineingeworfen. Die zweite Division des siebenten Korps zog sich noch in leidlich guter Ordnung zurück, während die Reste ihrer andern Divisionen sich

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