Der Zusammenbruch
Zweifellos dachte sie an ihren dort unten erschlagenen Mann, den der bayrische Offizier mit dem Fuße gegen die Mauer gestoßen hatte.
»Wenn Ihnen das soviel Kummer macht,« sagte Jean ganz überrascht, »dann müssen Sie mir von dem Schlachten nichts vorlesen.«
Aber sie gewann sofort ihre freundliche Sanftmut wieder.
»Nein, nein, verzeihen Sie, mir macht das wirklich auch Spaß.«
Eines Abends zu Anfang Oktober als draußen ein wütender Wind heulte, trat sie nach ihrer Rückkehr vom Lazarett ganz bewegt in die Kammer und sagte:
»Ein Brief von Maurice! Der Doktor hat ihn mir eben gegeben!«
Die beiden gerieten jedem Morgen in größere Unruhe darüber, daß der junge Mann gar kein Lebenszeichen von sich gab; und vor allem eine Woche lang, nachdem das Gerücht von der vollständigen Einschließung von Paris umhergelaufen war, da verzweifelten sie daran, noch wieder Nachricht von ihm zu erhalten, und fragten sich besorgt was aus ihm, wohl nach seinem Fortgang von Rouen geworden sein könne. Jetzt klärte sich ihnen das Schweigen auf, denn der Brief, den er am 18. von Paris aus an Doktor Dalichamp gesandt hatte, demselben Tag, an dem die letzten Züge nach Le Havre abgingen, hatte einen gewaltigen Umweg gemacht und war nur durch ein Wunder herübergekommen, nachdem er sich unendlich oft unterwegs verirrt hatte.
»Ach, der liebe Junge!« rief Jean ganz glücklich. »Lesen Sie mir mal schnell vor!«
Der Wind hatte seine Wut noch verdoppelt, das Fenster krachte wie unter Rammstößen. Und nachdem Henriette die Lampe auf den Tisch vorm Bett gestellt hatte, machte sie sich ans Lesen, so nahe bei Jean, daß ihre Haare sich berührten. Es war so milde und schön in dieser Kammer, während draußen der Sturm tobte.
Es war ein langer Brief von acht Seiten, in dem Maurice zunächst auseinandersetzte, wie es ihm gleich nach seiner Ankunft am 16. geglückt sei, sich in ein Linienregiment einreihen zu lassen, dessen Bestände aufgefüllt wurden. Dann wandte er sich den Tatsachen zu; er erzählte mit fieberhafter Erregung alles, was er von den Ereignissen dieses schrecklichen Monats erfahren hatte, wie Paris sich nach dem schmerzlichen Erstarren über Weißenburg und Fröschweiler wieder beruhigt habe, wie es wieder Hoffnung auf einen Ausgleich gewonnen habe, wieder in neue Einbildungen verfallen sei – die sagenhaften Siege der Heere, der Oberbefehl Bazaines, die Massenerhebung, die Massenopfer von Preußen, von denen sogar die Minister von der Tribüne gesprochen hatten. Und wie dann plötzlich zum zweiten Male am 3. September ein Donnerschlag über Paris ertönt sei: alle Hoffnungen zerschmettert, die unwissende, vertrauensselige Stadt unter diesem Schicksalsschlage zusammengebrochen, die Rufe nach: Absetzung! Absetzung! die abends schon, auf den Boulevards ertönt seien, die kurze, düstere Nachtsitzung, in der Jules Favre über die Forderung nach Absetzung durch das Volk gesprochen habe. Wie dann am nächsten Morgen, dem 4. September, eine Welt zusammengebrochen sei, das zweite Kaiserreich durch seine Laster und Fehler in den Zusammenbruch mit hineingerissen sei, das ganze Volk auf der Straße, ein Strom von einer halben Million Menschen imSonnenscheine dieses schönen Sonntages den Konkordienplatz erfüllt und sich bis an die Gitter der gesetzgebenden Versammlung gewälzt habe, das eine Handvoll Soldaten kaum mit erhobenem Kolben verschließen konnte, wie sie die Türen eingebrochen hätten und in den Sitzungssaal eingedrungen seien, wo Jules Favre, Gambetta und andere Abgeordnete der Linken gerade aufgebrochen seien, um im Stadthause die Republik auszurufen, während sich im Louvre eine kleine, nach dem Platze Saint-Germain-l'Auxerrois hinausführende Tür öffnete, um die schwarzgekleidete Kaiserin-Regentin hinauszulassen, die zitternd, nur von einer einzigen Freundin begleitet, von dannen floh und sich auf dem Rücksitz einer zufällig angetroffenen Mietskutsche verbarg, die nun mit ihr weit von den jetzt durch die Menge durchströmten Tuilerien weghumpelte. Am gleichen Tage verließ Napoleon III. den Gasthof von Bouillon, in dem er die erste Nacht der Verbannung auf seinem Wege nach Wilhelmshöhe zugebracht hatte.
Mit ernster Miene unterbrach Jean Henriette:
»Dann sind wir jetzt also eine Republik? ... Um so besser, wenn es nur dazu hilft, die Preußen zu schlagen!«
Aber er schüttelte den Kopf; sie hatten ihn immer vor der Republik bange gemacht, als er noch Bauer war. Und jetzt vor dem Feinde schien
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