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Der Zusammenbruch

Der Zusammenbruch

Titel: Der Zusammenbruch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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ihm das auch nicht gerade richtig, nicht einig zu sein. Aber schließlich mußte ja wohl irgend etwas anderes an die Reihe kommen, da das Kaiserreich entschieden faul war und niemand mehr was von ihm wissen wollte.
    Henriette las den Brief zu Ende, der damit schloß, daß er den Anmarsch der Preußen meldete. Am 13., demselben Tage, an dem sich eine Abordnung der Regierung der Nationalen Verteidigung in Tours einrichtete, hatte man sieöstlich von Paris bis Lagny vorrücken sehen. Am 14. und 15. standen sie an den Toren bei Créteil und Joinville-le-Pont. Aber am 18., an dem Morgen, wo Maurice diesen Brief geschrieben hatte, schien er noch nicht an eine vollständige Einschließung glauben zu wollen; es war abermals ein schönes Vertrauen über ihn gekommen, und er betrachtete die Belagerung als einen unverschämten, frechen Versuch, der scheitern müsse, ehe drei Wochen um wären, wenn man sich auf die Entsatztruppen verlassen könne, die die Provinz ganz sicher zu Hilfe schicken würde, wobei die Gruppe von Metz noch gar nicht mitgerechnet sei, die doch schon sicher von Verdun über Reims heranrücke. Aber die Ringe des eisernen Gürtels hatten sich schon ineinandergefügt und Paris umfangen, und jetzt bildete es, von aller Welt abgeschlossen, nichts weiter als ein Riesengefängnis für zwei Millionen Lebewesen, in dem nur noch das Schweigen des Todes herrschte.
    »O mein Gott,« flüsterte Henriette bedrückt, »wie lange soll das alles dauern; werden wir ihn wohl je wiedersehen?«
    Eine Windsbraut bog die Bäume in der Ferne vornüber und brachte alles alte Gebälk auf dem Hofe zum Knarren. Wenn es einen harten Winter geben sollte, was für Leiden bedeutete das für die armen Soldaten, die sich ohne Feuer, ohne Brot im Schnee schlagen mußten.
    »Bah!« schloß Jean, »sein Brief ist sehr nett, und es ist ein Spaß, etwas von ihm zu hören... Man muß nicht immer gleich verzweifeln.«
    Nun verrann Tag für Tag des Oktobermonats; der Himmel war grau und traurig, und der Wind führte bald nur immer mehr düstere Wolken heran. Jeans Wunde vernarbte unendlich langsam; der Eiter, den das Drän abführte, warimmer noch nicht so, daß der Doktor es hätte weglassen können; und der Verwundete wurde sehr schwach, da er sich in seiner Furcht, verkrüppelt zu bleiben, gegen jede Operation wehrte. Ein ergebenes Abwarten, das nur zuweilen durch plötzliche Angstzustände unterbrochen wurde, ohne daß ihnen eine erkennbare Ursache zugrunde lag, herrschte nun in der kleinen verlorenen Kammer, in der alle Nachrichten nur von weither unbestimmt eintrafen, wie beim Erwachen aus einem Alpdruck. Dort hinten ging der scheußliche Krieg mit seinen Gemetzeln und Unglücksschlägen weiter, irgendwo, ohne daß sie je die reine Wahrheit erfuhren, ohne daß ein anderer Laut zu ihnen drang als das dumpfe Stöhnen des hingemordeten Vaterlandes. Und der Wind trieb die Blätter unter dem bleigrauen Himmel dahin; dann herrschte wieder langes Schweigen über der kahlen Landschaft und wurde nur hin und wieder durch das einen strengen Winter ankündigende Krächzen der Raben unterbrochen.
    Das Lazarett, das Henriette nur verließ, um Jean Gesellschaft zu leisten, war zu einem ihrer Unterhaltungsgegenstände geworden. Wenn sie abends zurück war, fragte er sie; er kannte jeden der Verwundeten und wollte wissen, welcher stürbe und welcher geheilt würde; und sie selbst wurde nicht müde, ihm von diesen ihr ganzes Herz erfüllenden Verhältnissen mit allen kleinsten Einzelheiten ihres Tagewerkes zu erzählen.
    »Ach!« sagte sie immer und immer wieder, »die armen Jungens, die armen Jungens!«
    Das war nicht länger der Verbandplatz während der Schlacht, auf dem frisches Blut floß, wo Gliedmaßen bei gesundem, rotem Fleisch abgenommen wurden. Dies war jetzt das dem Hospitalbrand verfallene Lazarett, das nachFieber und Tod roch, ganz schlaff von langsamen Genesungsvorgängen und nicht endenwollenden Todeskämpfen. Der Doktor Dalichamp hatte die größte Mühe gehabt, sich die nötigen Betten, Matratzen und Laken zu besorgen; und jeden Tag verlangte der Unterhalt seiner Kranken Brot, Wein, Fleisch, trockenes Gemüse, Binden, Verbandstoffe und Hilfswerkzeuge, neue Wunder von ihm. Die Preußen, die sich im Militärhospital in Sedan eingerichtet hatten, verweigerten ihm alles, sogar Chloroform, so daß er sich alles aus Belgien kommen lassen mußte. Und dabei hatte er verwundete Deutsche ebensogut aufgenommen wie Franzosen und verpflegte vor allem

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