Der Zusammenbruch
geschlagen hatten. Rechts davon befand sich eine Fähre; das weiße Haus des Schiffers lag einsam im hohen Grün. Auf beiden Ufern waren große Feuer angezündet, deren von Zeit zu Zeit hoch emporschlagende Flammen die Nacht durchleuchteten und das Wasser und die steilen Böschungen in Tageshelle erscheinen ließen. Nun tauchten die gewaltigen Truppenmassen auf, die warten mußten, da der Laufsteg nur zwei Mann zur Zeit den Übergang gestattete und aus derhöchstens drei Meter breiten Brücke Kavallerie, Artillerie und das Gepäck mit tödlicher Langsamkeit im Schritt hinübergingen. Es hieß, daß sogar eine Brigade des ersten Korps sich noch dort befände, die Bedeckung einer Munitionsabteilung, ohne die vier Kürassierregimenter der Brigade Bonnemain in Rechnung zu stellen. Und hinter ihnen kam nun das ganze siebente Korps, das den Feind auf den Hacken zu haben glaubte und sich in fieberhafter Hast auf dem andern Ufer in Schutz bringen wollte.
Einen Augenblick herrschte Verzweiflung. Wie? Seit dem Morgen marschierten sie, ohne gegessen zu haben; gerade hatten sie sich auf Kosten ihrer Beine aus dem schrecklichen Engpaß von Haraucourt herausgezogen, und das alles nur, um hier bei der allgemeinen Unordnung und Bestürzung gegen eine unübersteigbare Mauer zu rennen! Die letzten würden vielleicht nach Stunden noch nicht an die Reihe kommen; und alle fühlten, daß, wenn die Preußen auch bei Nacht ihre Verfolgung nicht fortzusetzen wagten, sie doch bei Tagesanbruch da sein würden. Indessen kam der Befehl, die Gewehre zusammenzustellen, und sie lagerten auf den weiten, nackten, bis an die Maaswiesen hinuntergehenden Hügeln, an deren Abhängen sich die Straße von Mouzon entlangzieht. Hinter ihnen nahm oben auf einer ebenen Fläche die Reserveartillerie Gefechtsstellung ein und richtete ihre Geschütze auf den Paß, um, falls nötig, seinen Ausgang zu bestreichen. Und das Warten ging von neuem an, voller Aufruhr und Ängste.
Die 106er fanden sich indessen auf einem oberhalb der Straße gelegenen Stoppelfeld untergebracht, das die weite Ebene beherrschte. Die Leute legten widerwillig ihre Gewehre ab und blickten voller Furcht vor einem Angriff nachrückwärts. Alle schwiegen; ihre Gesichter waren hart, verschlossen, und sie brummten nur zeitweilig leise, zornige Worte. Eben hatte es neun geschlagen, und sie lagen hier schon zwei Stunden; viele konnten auch trotz der heftigen Abspannung nicht schlafen, sie lagen zitternd auf der Erde hingestreckt und lauschten auf die geringsten Geräusche in der Ferne. Gegen den sie verzehrenden Hunger kämpften sie nicht mehr an; dort drüben auf der andern Seite des Flusses wollten sie essen, und Gras essen, wenn sie nichts anderes fänden. Aber die Verstopfung schien zuzunehmen; die von General Douay an der Brücke aufgestellten Offiziere kamen alle zwanzig Minuten mit ewig derselben ärgerlichen Meldung, daß noch Stunden und abermals Stunden nötig sein würden. Der General entschloß sich endlich, sich selbst einen Zugang bis an die Brücke zu bahnen. Man sah, wie er zu dem Menschenstrome sprach und den Marsch beschleunigte.
Maurice hatte sich mit Jean auf eine Böschung gesetzt und wiederholte die Bewegung nach Norden hin, die er schon vorher gemacht hatte.
»Da unten liegt Sedan ... Und sieh, das ist Bazeilles... Und dann Douzy und Carignan rechts davon ... Bei Carignan sollen wir uns zweifellos sammeln... ach! wenn es nur hell wäre, würdest du schon sehen, Platz genug ist da!«
Seine Bewegung umspannte das riesige, von Schatten erfüllte Tal. Der Himmel war nicht so dunkel, daß man nicht auf der schwarzen Fläche der Wiesen den blassen Flußlauf hätte verfolgen können. Die Baumgruppen bildeten schwerere Massen, vor allen eine Reihe von Pappeln, die links den Horizont abschlossen und wie ein phantastischer Deich aussahen. Als Hintergrund hinter Sedan, das von kleinen, lebhaft hellen Punkten übersät war, ballte sich dann die Finsternis zusammen,als hätten die ganzen Ardennenwälder dort ihre hundertjährigen Eichen als Vorhang aufgespannt.
Jean ließ seine Blicke zu der Schiffsbrücke unter ihnen zurückgleiten.
»Sieh mal, alles will ausrücken! Wir kommen niemals 'rüber.«
Auf beiden Ufern schlugen die Feuer in diesem Augenblick höher empor, und ihre Helligkeit wurde so lebhaft, daß der Vorgang mit all seinen Schrecken so klar wie eine heraufbeschworene Geistererscheinung dastand. Unter dem Gewicht der seit dem Morgen übersetzenden Kavallerie und
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