Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zusammenbruch

Der Zusammenbruch

Titel: Der Zusammenbruch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
Vom Netzwerk:
hoch!«
    Er hatte sich seinen Napf von neuem gefüllt und leerte ihn auf einen Zug, wobei er mit der Zunge schnalzte. Und dabei war auch sein Gesicht von erdfarbiger Blässe, denn der Hunger zehrte so an ihm, daß ihm die Hände zitterten.
    »Vorwärts, mein Junge, wir müssen die Kameraden wieder einholen!«
    Maurice überließ sich seinem Arm und ließ sich wie ein Kind führen. Nie hatte ihn ein Frauenarm so warm am Herzen gehalten. Wo nun alles inmitten dieses äußersten Elends, den Tod vor sich, zerbröckelte, war es für ihn ein köstlicher Trost, sich von einem lebenden Wesen so geliebt und versorgt zu fühlen; und vielleicht fügte gerade der Gedanke seiner Erkenntlichkeit eine so unendliche Süße hinzu, daß dies so ganz ihm allein gehörige Herz das eines einfachen Gemütes, eines mit der Erde im Zusammenhang gebliebenen Bauern war, gegen den er zuerst Abscheu empfunden hatte. War das nichtdie Brüderlichkeit der ersten Tage der Welt, die vor jeder Kultur und allen Klassen bestehende Freundschaft, diese Freundschaft, die die beiden Männer in dem gemeinsamen Wunsche nach wechselseitigem Beistand angesichts der Drohungen der feindlichen Natur vereinigte und verschmolz? Er hörte sein Menschentum in Jeans Brust schlagen und war stolz, ihn so stark zu wissen, während er ihm so hingebend half; dagegen empfand Jean, ohne seine Gefühle weiter zu untersuchen, eine große Freude darüber, in seinem Freunde eine solche Anmut, eine so große Klugheit zu beschützen, die in ihm selbst unentwickelt geblieben waren. Seit dem gewaltsamen Tode seiner von einem schrecklichen Vorgange hingerafften Frau glaubte er, er habe kein Herz mehr; er hatte sich geschworen, nie wieder einen Blick auf eins dieser Geschöpfe zu werfen, unter denen man so sehr leidet, selbst wenn sie nicht böse sind. Ihre Freundschaft kam ihnen beiden wie eine Freisprechung vor: sie brauchten sich nicht zu umarmen, sie berührten sich in der Tiefe, fanden sich einer im andern, so verschieden sie auch waren, auf diesem Schreckenswege nach Remilly; einer stützte den andern und wurde mit ihm zu einem einzigen Wesen voller Mitleid und Duldung.
    Als die Nachhut Raucourt verließ, zogen die Deutschen am andern Ende ein; und zwei ihrer Batterien hatten sich im Handumdrehen auf den Höhen links eingenistet und feuerten. Nun befanden sich die 106er, solange sie auf der sich an der Emmane entlangziehenden Straße dahinmarschierten, in Schußlinie. Eine Granate brach eine Pappel am Ufer des Flusses ab; eine zweite grub sich auf einer Wiese neben Hauptmann Beaudouin ein, ohne zu bersten. Aber der Paß verengerte sich bis Haraucourt hinunter und endete dort in einem sehr engen, auf beiden Seiten von baumbedeckten Abhängenbeherrschten Hohlwege; wenn sich hier eine Handvoll Preußen in einen Hinterhalt gelegt hatte, mußte ein Unglück geschehen. Von hinten unter Geschützfeuer, rechts und links die Drohung eines möglichen Angriffs, kamen die Truppen nur unter wachsender Ängstlichkeit vorwärts und beeilten sich, aus diesem gefährlichen Durchgang herauszukommen. Ein letztes Emporflammen von Tatkraft war auch über die Müdesten gekommen. Die Soldaten, die sich eben noch in Raucourt von Tür zu Tür geschleppt hatten, schritten jetzt unter dem glühenden Ansporn der Gefahr munter und neu belebt voran. Es schien, als begriffen selbst die Pferde, daß jede verlorene Minute teuer bezahlt werden müßte. Die Spitze der Abteilung mußte schon in Remilly sein, als das Ganze plötzlich ins Stocken geriet.
    »Verflucht!« sagte Chouteau, »wollen die uns hier liegen lassen?«
    Die 106er hatten Haraucourt noch nicht erreicht, und es regnete jetzt fortgesetzt Granaten.
    Während das Regiment in Erwartung des Weitermarsches auf der Stelle trat, platzte rechts eine, die glücklicherweise niemand verletzte. Fünf endlose, schreckliche Minuten verrannen. Aber es ging nicht aus der Stelle; da unten mußte ein Hindernis den Weg versperren, mußte sich plötzlich eine Mauer erhoben haben. Der Oberst stand aufrecht in den Bügeln und sah zitternd nach vom, denn er fühlte, wie sich hinter ihm die Panik seiner Leute erhob.
    »Alle Welt weiß ja doch, daß wir verkauft sind«, wiederholte Chouteau voller Wut.
    Gemurmel wurde laut, das wachsende Grollen der Verzweiflung unter der Peitsche der Furcht. Ja, ja, sie waren hierher gebracht, um sie zu verkaufen, um sie den Preußenauszuliefern. In der Erbitterung über die unglücklichen Zufälle und bei dem Übermaß an begangenen

Weitere Kostenlose Bücher