Der Zwang zur Serie. Serienmörder ohne Maske.
kennt die Gerüchte, die seit Jahren durch die Stadt Schenectady schwirren. Aber jeder Totenschein hatte bisher einen natürlichen Tod vermerkt, und deshalb war für Daly auch alles in Ordnung gewesen.
Als Marybeth diesmal bei Daly erscheint und die Beerdigung bestellt, erzählt sie, nun sei endlich das Geheimnis der Todesfälle gelöst. »Mein Mann und ich besitzen jeder ein Todes-Gen. Das haben wir an unsere unglücklichen Kinder vererbt.«
Daly ist von dieser Erklärung beruhigt. Nun kennt man die Ursache der Todesserie, vielleicht läßt sich jetzt etwas dagegen tun.
An einem kalten Februartag findet in Dalys Bestattungsheim die Trauerfeier statt. Neben den Verwandten haben sich zahlreiche Bekannte und Neugierige eingefunden. Wie alles durchdringende Scheinwerfer richten sich die Blicke der Leute auf Marybeth und ihren Mann Joe. Mary trägt ihren Beerdigungsmantelden grauen Ledermantel mit Pelzbesatz, den sie bei jeder Bestattung an zieht. Fast alle Beerdigungen erfolgten zur Winterszeit. Marybeth und Joe sitzen in der vordersten Reihe vor dem offenen Kindersarg. Sie wirken ruhig und gefaßt. Die Trauergäste grübeln, ob diese Ruhe gottergebener Gelassenheit entspringt oder völliger Gleichgültigkeit.
Nach der Rede des Priesters wird der Sarg zu Grabe gebracht.
Mary tritt ans Grab und spricht laut ein Gebet. Darin bittet sie Gott, die Seele ihres Kindes zu sich zu nehmen.
Marybeth Tinning ist fünfunddreißig Jahre alt, als sie ihr sechstes Kind begräbt. Sie war neunundzwanzig, als ihr zum ersten Mal ein Kind starb, Jennifer, eine Woche nach ihrer Geburt. Im Verlauf der nächsten zwei Monate starben die beiden älteren Geschwister Jennifers, Barbara und Joseph. Wenig später folgten ihnen Timothy und Nathan in den Tod.
Nach ihrem High-School-Abschluß hatte Marybeth verschiedene berufliche Tätigkeiten ausgeübt. Sie hatte als Schwesternhelferin gearbeitet und dabei einige medizinische Kenntnisse erworben, auch die Technik der Wiederbelebung erlernt. Sie hatte, wenn eines ihrer Kinder in Lebensgefahr war, Wiederbelebungsversuche vorgenommen, leider immer erfolglos. Später war sie jahrelang im Flavorland, einem Lokal in Schenectady, als Kellnerin beschäftigt gewesen.
Marybeth – darüber waren sich ihre Kolleginnen im Flavorland einig – hat eine gute Figur. Sie wirkt immer gepflegt. Ihr Gesicht verrät kosmetische Sorgfalt, ihre Kleidung einen Hang zur Eitelkeit. Ihre Mitarbeiter halten Marybeth für launisch. Zuweilen ist sie sehr gesprächig, etwa wenn sie in überschwenglichem Stolz ihre Kinder präsentiert. Ein andermal fällt sie durch verstocktes und mürrisches Schweigen auf. Daß sie nach dem Tod eines Kindes in Depressionen verfällt, verstehen alle. Und alle kennen das Mittel, sie dann sofort wieder in beste Stimmung zu versetzen. Man braucht nur Mitgefühl mit ihrem schweren Schicksal zu äußern, Hochachtung vor ihrer seelischen Stärke, wie sie dieses Schicksal bewältigt – und Marybeth blüht geradezu auf.
Zuweilen aber gestattet sie sich Clownerien, die sich eine Kellnerin nicht leisten darf. Einmal erscheint sie zur Arbeit mit völlig abrasierten Augenbrauen, die sie mit dicken schwarzen Zickzacklinien nachgezeichnet hat, die Lippen grellrot verschmiert, das Haar bunt gefärbt. Mehrmals trug sie Umstandskleidung, obwohl sie gar nicht schwanger war. Auch erzählte sie den Kolleginnen, ein Arzt habe ihr empfohlen, sich sterilisieren zu lassen, da mit sie nicht fortwährend den Friedhof bevölkere. Dem Rat zufolge habe sie sich dann sterilisieren lassen. Bald darauf gebar sie das nächste Kind.
Marybeths Mann Joe arbeitet in einem Elektro-Großbetrieb. Wer das Ehepaar näher kennt, merkt bald, daß Joe nicht nur den Tod der Kinder, sondern auch Marybeths oft sonderbares Verhalten resigniert erträgt. Was man seiner stoischen Gemütsruhe zuschreibt, hat allerdings andere Ursachen. Wenn Marybeth ihren Willen durchsetzen möchte, tut sie das sehr nachdrücklich. Sie stampft mit den Füßen, schreit, heult stundenlang. Einmal hat sie Joe mit einer Handvoll Schlaftabletten zu vergiften versucht.
Joe wurde bereits bewußtlos ins Krankenhaus gebracht.
Dort erklärte er dann, er könne sich an nichts mehr erinnern. Man nahm einen Selbstmordversuch an, da er keine Anklage gegen seine Frau erhob. Joes Beziehung zu Marybeth ist von Angst geprägt. Er bewahrt seinen Seelenfrieden durch eine Art Totstellreflex.
Einen Monat nach Mary Frances' Tod ist Marybeth wiederum schwanger – eine
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