Der Zwang zur Serie. Serienmörder ohne Maske.
verabscheuungswürdigen Taten hinzurichten«. Denn von ihnen könnte die Wissenschaft vieles über das Werden eines Serienmörders lernen. »Der Gesellschaft nützen Hinrichtungen ohnehin nichts. Auch schrecken sie potentielle Serienmörder keineswegs ab. Sie sind zu sehr Gefangene ihrer Phantasievorstellung, als daß die Möglichkeit ihrer Verhaftung oder Tötung sie von ihren Verbrechen abhalten könnte.«
Tschikatilo mußte während des Prozesses in einen Metallkäfig gesteckt werden, damit ihn die Angehörigen seiner Opfer nicht totschlugen. Dieses Rachegefühl ist verständlich. Aber eine Hinrichtung, d. h. die vorsätzliche Tötung eines Menschen durch den Staat ähnelt in fataler Weise dem orgiastischen Machtgefühl, das er am Täter zuvor verdammte.
Dreiundfünfzig Morde – warum wurde dem Serienmörder so spät erst Einhalt geboten, obwohl bereits sechs Jahre zuvor die Tätigkeit eines Serienmörders erkannt und die Polizei eines ganzen Rayons auf ihn angesetzt war?
Auch in diesem Fall finden sich objektive gesellschaftliche und soziale Faktoren, die dem Täter eine so entsetzlich lange Handlungsfreiheit gaben.
Einige dieser Ursachen sind im damals herrschenden sowjetischen System begründet, andere sind gesellschaftlich unabhängig und auch bei anderen Serienmördern zu finden.
Die Sowjetgesellschaft war eine in sich geschlossene Gesellschaft, sowohl in ihrer staatlich-sozialen Struktur wie auch in ihrer Ideologie, also beispielsweise auch in ihren Rechts- und Moralauffassungen und in ihrem Menschenbild. Wie jede geschichtlich relativ junge Gesellschaft besaß sie ein optimistisches Selbstverständnis, so sehr diesem die Wirklichkeit auch widersprechen mochte.
Was sich mit diesem optimistischen Menschenbild nicht in Übereinstimmung bringen ließ, wurde aus dem Bewußtsein verdrängt, existierte offiziell nicht. Verbrechen galten lange Zeit als der sozialistischen Gesellschaft wesensfremde Rudimente, als »Muttermale« der bürgerlichen Gesellschaft und wurden – solange sie sich nicht politisch gegen jegliche tatsächliche oder vermeintliche Opposition verwenden ließen – meist totgeschwiegen.
Erst in den letzten Jahren des Systems und auch dann nur begrenzt auf das Rostower Gebiet, veröffentlichte die Presse mehr oder weniger verschlüsselte Andeutungen über einen hier tätigen Serienmörder. Dadurch konnte die Bevölkerung weder ausreichend gewarnt noch wirksam zur Mithilfe gewonnen werden. Niemand, und am wenigsten die Opfer selbst, hielt es für möglich, daß ein so gerissener und grausamer Mörder mitten unter ihnen lebte. Wurde dann doch wieder einer seiner Morde in einem kleinen Umkreis bekannt, gebar die Ungewißheit wilde Gerüchte, die in ihrer Schrecklichkeit schon wieder unglaubhaft wurden.
Tschikatilos erste sexuelle Verfehlungen als Lehrer wurden in seinen Personalpapieren verschwiegen. Die Schulleiter fürchteten Unannehmlichkeiten für sich selbst, peinliche Untersuchungen, ob sie nicht selbst durch mangelnde Wachsamkeit diesen Handlungen Vorschub geleistet hätten. Wären die Behörden früher auf Tschikatilos erste Straftaten gestoßen, hätte er vielleicht noch psychiatrisch behandelt und das Schlimmste verhütet werden können. Auf jeden Fall aber wäre Tschikatilo bei weiteren Morden in die Routineüberprüfung einschlägig Vorbestrafter geraten und möglicherweise schon früher gefaßt worden.
Gerade die Suche nach einem Serienmörder bedarf eines großen technisch-organisatorischen Aufwands. Daran aber fehlte es der sowjetischen Polizei. Viele Polizeidienststellen besaßen nicht einmal eine Schreibmaschine, geschweige denn einen Computer zur Datenspeicherung. Vergleichskarteien für Kapitalverbrechen existierten überhaupt nicht oder waren territorial begrenzt. So mußten im Fall Tschikatilo Zehntausende von Karteikarten noch mit der Hand geschrieben werden. Eine rasche Auswertung war dadurch sehr erschwert. Erst zwei Jahre vor Ergreifung Tschikatilos konnte Kostojews Sonderkommission mit Computern arbeiten.
Zweimal war Tschikatilo in Verdacht geraten, einmal nach dem ersten Mord 1978 und dann 1984, als er mit einem Messer in der Tasche auf dem Bahnhof festgenommen worden war. Beide Male gab sich die Polizei schließlich damit zufrieden, daß er als Lehrer bzw. als leitender Angestellter und als Mitglied der Kommunistischen Partei nicht der gesuchte Mörder sein konnte. Jahrelang suchte die Miliz den Mörder unter Randgruppen der Gesellschaft, unter Homosexuellen und
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