Der Zwang zur Serie. Serienmörder ohne Maske.
sozial entgleisten Jugendlichen. Für den Mord an Lena wurde ein Unschuldiger hingerichtet, dem durch Folter ein falsches Geständnis erpreßt worden war.
Im Lauf der Ermittlung kam es zu Spannungen zwischen der Staatsanwaltschaft und der Miliz. Kompetenz- und Konkurrenzstreit und gegenseitige Schuldzuweisungen behin derten die Ermittlung, vor allem, als Moskau die Sonderkommission bildete und Kostojew in die Ukraine schickte. Die Rostower Miliz fühlte sich bevormundet und wies die Kritik an ihren Ermittlungspannen zurück. An einer Panne allerdings war die Miliz unschuldig, nämlich als sie 1984 Tschikatilo wieder entließ. Damals wußte man noch nichts von der seltenen Ausnahme, daß Blut und Sperma verschiedenen Blutgruppen angehören können. Damit schied Tschikatilo vorerst einmal aus dem Kreis der Verdächtigen aus – ein unglaublicher Glücksfall für den Mörder.
Aber auch einige andere Umstände, die er raffiniert nutzte, erleichterten ihm seine Verbrechen.
Oft suchte er seine Opfer aus dem Bodensatz der Gesellschaft aus. Es waren Prostituierte, Obdachlose, Herumtreiber. Ihr Verschwinden wurde gar nicht oder erst spät bemerkt, wenn ihre Spuren schon verwischt waren.
Die Anonymität der Großstadt, das bunte Treiben einer Stadt in der Nähe zum Orient machten ihn ebenso zu einem Mann der Menge wie seine Opfer zu gesichtslosen Schatten. Da er sie meist in einsamen Wäldern umbrachte, fand man ihre Leichen oft erst nach Wochen oder Monaten, verwest oder bereits skelettiert. Das erschwerte ihre Identifizierung, die Spurensuche am Tatort und Rückschlüsse auf den Täter.
Die meisten Serienmörder töten einen bestimmten Typ von Opfern, der ihren Zwangsvorstellungen entspricht: Dahmer tötete farbige Homosexuelle, Seefeldt Jungen in Matrosenanzügen. Für die Ermittlung des Täters kann dieser modus operandi ein wichtiger Hinweis auf den Täter sein. Tschikatilo jedoch bevorzugte keinen besonderen Opfertyp. Er mordete wahllos Frauen, Kinder, Mädchen, Jungen. Deshalb schrieb die Polizei seine Morde anfangs verschiedenen Tätern zu. Auch wechselte er die Art und Weise, wie er seinen Opfern das Leben nahm. Manche erschlug er, einige erwürgte er, andere tötete er mit dem Messer. Auch das war untypisch für einen Serienmörder.
Man mag noch so viele objektive und subjektive Gründe für die grauenhafte Tätigkeit dieses Serienmörders finden – »trotz ausführlicher Untersuchungen kann man nicht davon ausgehen, daß alles bis in die letzte Einzelheit geklärt worden ist«, schrieb der Psychiater Tkatschenko. »Niemand außer Tschikatilo selbst weiß alles.«
Aber auch das ist zu bezweifeln. Wußte Tschikatilo tatsächlich, warum er beispielsweise seinen Opfern die Augen ausstach und die Geschlechtsteile herausriß? Vollzog er damit bewußt eine Rache für die Impotenz seiner eigenen Augen und Genitalien? Oder war auch dieses Motiv nicht vielleicht längst ins Unterbewußtsein abgesunken? Zwar gestand Tschikatilo selbst: »Was ich getan habe, läßt mich erschauern.« Und dennoch war er nicht fähig, die Motive seines Handelns zu begreifen. Er machte allein die Gesellschaft dafür verantwortlich: »Ich bin ein Opfer«, behauptete er. Das unmenschliche Sowjetsystem habe seine Nerven zerrüttet, ihn in Verzweiflung und Wut getrieben, so daß er schließlich
über seine unschuldigen Opfer hergefallen sei, die ebenso wie er Opfer eines perversen Systems gewesen seien.
Diese Schutzbehauptung war ein letzter Versuch Tschikatilos, seine Verbrechen zu rechtfertigen, indem er die Verbrechen seiner Gesellschaft dafür verantwortlich machte. Damit aber konnte er seine eigene, seine ganz individuelle Schuld nicht tilgen: daß ihm ein Menschenleben nichts wert war, wenn er seine perversen sadistischen Triebe befriedigen wollte.
Rache
Es ist ein Junitag im Jahre 1990.
Die Sonne brütet aus der Sumpflandschaft der Everglades schwüle Hitze aus. Das Summen von Myriaden Insekten erfüllt die Luft. Aus dem Schilf dringt das Geschrei der Wasservögel.
Die Staatsstraße durchläuft die Halbinsel Florida an der atlantischen Küste nach Süden bis Miami, vorbei an großen und kleinen Seen, Maisfeldern, Sandebenen und Wäldern aus Pinien und Palmen.
Irgendwo am Straßenrand, im Schatten einer Eiche, steht eine Frau. Sie blickt die in der Sonnenglut flimmernde Straße entlang – eine Anhalterin, die auf einen Wagen wartet, der sie mitnimmt.
Aber um die Mittagsstunde kommt selten ein Wagen vorbei. Wer das Alter der
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