Der Zwang zur Serie. Serienmörder ohne Maske.
schrieb, seine schulischen Leistungen waren schlecht. Dem Hohn seiner Mitschüler sah er sich wehrlos ausgeliefert. Als er heranwuchs, stellte er eine weitere körperliche Störung fest. Er war impotent. Er konnte nur unter großen Schwierigkeiten eine Erektion bekommen. Sein Lebensgefühl war, wie er Kostojew gesteht, »ohne Augen und Genitalien geboren zu sein«.
Auch in anderer Hinsicht war er sehr verletzlich. Sein Vater war als Soldat in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten. Als er nach Kriegsende heimkehrte, wurde er wie die meisten Soldaten, die die Kriegsgefangenschaft in Deutschland überlebt hatten, daheim als Deserteur angeklagt und in ein Zwangsarbeitslager geschickt. Eine neue Schmach für An drej, der leidenschaftlich gern Romane vom heldenhaften Kampf sowjetischer Partisanen gegen die Okkupanten las. Er, der einsam im Wald mit der Spielzeugpistole seine Kämpfe gegen den Feind focht, war der Sohn eines Vaterlandsverräters! Eifrig suchte Tschikatilo diese Schande durch Treue zu Staat und Partei zu tilgen. Er bewarb sich zum Jurastudium. Neue Enttäuschung: als Sohn eines politischen Gefangenen wurde er abgelehnt.
Später erhielt er einen Studienplatz für Slawistik und trat der Kommunistischen Partei bei. Er schrieb patriotische Artikel für die Lokalpresse und ließ sich zum informellen Mitarbeiter der Geheimpolizei anwerben.
Nach Abschluß des Studiums ging Tschikatilo als Lehrer für russische Sprache und Literatur in den Schuldienst. Er war ein erfolgloser Lehrer. Die Schüler merkten bald seine Unsicherheit. Er war unfähig, bei seinen Schülern Interesse für sein Lehrfach zu wecken. In seinem Unterricht ging es chaotisch zu.
Seine sexuellen Störungen verleiteten ihn, zu Mädchen und Jungen sexuelle Kontakte zu suchen. Das wurde bekannt. Die Schulleitung fürchtete Unannehmlichkeiten und trennte sich von Tschikatilo in gegenseitigem Einvernehmen, so daß Tschikatilos Personalunterlagen keinen Vermerk über seine sexuellen Verirrungen erhielten. So bekam er eine neue Stelle als Lehrer und Heimleiter an einer Bergwerksschule.
Inzwischen hatte Tschikatilo geheiratet. Fenja war eine verständnisvolle Frau, auch gegenüber seiner zeitweiligen Impotenz, verschloß sich aber den daraus entspringenden abartigen Wünschen ihres Mannes. Tschikatilo suchte Befriedigung in einem anderen, einem geheimen Leben. Er kaufte sich ein halbverfallenes Häuschen, wo er mit Prostituierten, obdachlosen Frauen, Streunerinnen für wenig Geld seine sexuellen Wünsche zu erfüllen suchte. In diesem Haus beging er seinen ersten Mord, an der neunjährigen Lena. Das war 1978 gewesen. In den folgenden zwölf Jahren tötete Tschikatilo nach eigenem Geständnis mehr als fünfzig Menschen.
Da Tschikatilo aber nach wie vor Einzelheiten seiner Morde nicht preisgibt, greift Kostojew zu einem Trick. Er schilderte später dem amerikanischen Reporter Richard Lourie, wie er Tschikatilo zu weiteren Aussagen bewegen wollte: »Andrej Romanowitsch, ich kann nicht verstehen, warum Sie sich nicht kooperativ verhalten. Sie sind ein kranker Mensch. Die Wissenschaft ist begierig, Ihre seelischen Störungen zu untersuchen. Verzichten Sie nicht auf diese Chance. Entlasten Sie sich von Ihren schweren Konflikten. Es ist meine Aufgabe, Menschen wie Ihnen zu helfen, wieder einen Bezug zum Leben und zu anderen Menschen zu finden. Sie haben die Wahl zwischen Therapie und Exekution. Wenn Sie geheilt würden, brauchte man Sie nicht in der Klinik oder im Gefängnis zu behalten. Sie wären ein freier Mann, frei und am Leben. Sind Sie wirklich so wirr im Kopf, daß Sie statt dessen den Tod vorziehen?«
Und Tschikatilo fällt auf dieses Versprechen herein: Therapie und Freiheit statt Tod. Tschikatilo ist bereit, sich einem Psychiater anzuvertrauen. Kostojew bereitet ein Ge spräch zwischen Tschikatilo und dem Rostower Psychiater Buchanowski – der bereits 1984 das Täterprofil entworfen hatte – vor.
Buchanowski gelingt es auch, Tschikatilos Hemmschranken und Selbsttäuschungen zu durchbrechen. In den folgenden Wochen berichtet Tschikatilo ihm über seine Morde. Zum ersten Mord an der neunjährigen Lena sagt er: »Es war eine Art Raserei, in der ich von einer bestialischen Leidenschaft beherrscht wurde. Ich glaube, nach diesem Mord hat sich meine Psyche grundlegend verändert.« Und später: »Wenn ich Frauen ermordete, hatte ich immer den Wunsch, in ihren Unterleib einzudringen, ihre Geschlechtsorgane herauszuschneiden und sie wegzuwerfen. Ich
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