Der Zwang zur Serie. Serienmörder ohne Maske.
Serienmörderin in den USA gewesen sein. Aber im Unterschied zu ihren 34 Vorgängerinnen (zu denen auch Marybeth Tinning gehört) mordete sie nicht innerhalb der Familie oder des eigenen sozialen Umfelds, sondern Fremde.
3. Kapitel
Die Vereinsamten
Der Vielfraß
An einem Aprilmorgen 1924 sitzt der zweiundsechzigjährige Karl Denke in der Wohnküche. Vor ihm auf dem Tisch liegt ein Bündel entrindeter Weidenzweige. Sie sind zuvor gewässert worden und daher sehr biegsam. Mit geschickter Hand flicht er sie zu Brotkörbchen zusammen, die er auf dem Wochenmarkt verkaufen wird.
Denke, ein kleiner muskulöser Mann mit grauem Haar und einem sorgfältig gestutzten Vollbart, lebt bescheiden in seiner Einzimmerwohnung Teichstraße 10 in der schlesischen Kleinstadt Münsterberg. Das Haus, in dem er zur Miete wohnt, liegt am Rande der Stadt, gleich dahinter beginnen Wiesen und Wälder. Das Haus beherbergt noch eine Lehrerfamilie und ein älteres Arbeiterehepaar.
Denke unterbricht seine Arbeit. Er schiebt die Weidenruten beiseite, holt ein Brot aus der Blechbüchse, schneidet sich einen Kanten ab und entnimmt einem Holzfaß, das in der Zimmerecke steht, ein mächtiges Stück gepökeltes Fleisch. In der einen Hand das Brot, in der anderen das Lendenstück, schlingt er hastig große Bissen in sich hinein. Zwischendurch trinkt er aus einem schmutzigen Glas einen Schluck Bier. Vergnügt brummt er dabei den Kanon vor sich hin, der abends zu Schlachtfesten gesungen wird: »Fleesch und Blutt, doas schmackt gutt. Und a Kännla Bier dazune, doas schmackt gutt.«
Fleisch hat Denke schon immer gut geschmeckt, ein Kilo verputz' ich wie nichts, rühmt er sich. Und er hat in den letzten Jahren auch immer gut gefüllte Fleischtöpfe gehabt, im Gegensatz zu den Hausnachbarn. Nicht mal die Lehrersleute hätten sich so viel Fleisch leisten können wie er. Noch vor einem Jahr, auf dem Höhepunkt der Inflation, kostete ein Kilo Fleisch Milliarden.
Gesättigt stellt Denke das Bierglas weg und beginnt wieder an dem halbfertigen Körbchen zu arbeiten.
Er hört Stimmen im Hausflur. Da die Zimmertür direkt in den Flur mündet, ist jeder Laut von draußen zu hören. Er lauscht. Da klopft schon jemand an seine Tür.
Vielleicht ein Kunde, hofft Denke, steht auf und öffnet.
Er erblickt einen Mann, einen Rucksack auf dem Rücken. Neben dem Mann steht die Lehrersfrau: »Morgen, Herr Denke. Habe ihm schon zwei Pfennig gegeben.« Und zu dem Mann sagt sie: »Herr Denke weist niemanden von seiner Tür.«
Die Lehrersfrau kehrt wieder in die Wohnung zurück. Denke mustert den Mann. Ein Tippelbruder. »Na, dann kommen Sie mal rein«, sagt er freundlich. Während er den Mann in das Zimmer eintreten läßt, fügt er hinzu: »Sie können sich gleich einen ganzen Groschen verdienen.«
Dann verschließt er lautlos die Tür, rückt den Stuhl an den Tisch und fordert den Mann auf, sich zu setzen.
Solch liebenswürdige Aufnahme nicht gewohnt, nimmt der Gast auf dem Holzstuhl zögernd Platz.
»Hab' gerade zweites Frühstück gemacht«, erzählt Denke. »Wollen Sie auch einen Happen?«
Der Mann nickt erfreut. »Habe mir noch nicht mal mein erstes Frühstück geleistet, Herr Denke.«
»Gepökeltes oder gekochtes Fleisch?«
Der Fremde ist überwältigt. Fleisch zum Frühstück! Und daß er sogar wählen darf! »Gekochtes, wenn's recht ist?« fragt er unsicher.
»Sofort zu Diensten, der Herr«, scherzt Denke. Aus einem Topf, der hinter den Weidenzweigen auf dem Tisch steht, fischt er mit der Gabel ein Stück Fleisch heraus, legt es auf einen Teller und gießt aus einer Schüssel etwas Soße darauf. »Sahnesoße, vom Feinsten«, bemerkt er, holt auch ein Messer, schneidet eine Scheibe Brot ab und wünscht guten Appetit.
Mitfühlend sieht er seinem hungrigen Gast beim Essen zu. »Wie heißen Sie?«
Der Mann schluckt rasch einen Bissen hinunter, dann sagt er seinen Namen: Kaspar Hubalek.
»Sie kommen wohl aus Böhmen, Herr Hubalek?« »Aus Böhmen, ja.«
»Ich hör's an der Sprache. Und wie alt sind Sie?« »Vierundfünfzig.«
Denke nickt. Er schraubt ein Tintenfläschchen auf, taucht einen Federhalter hinein und schreibt etwas in sein Notizheft. »Ich führe nämlich ein Gästebuch«, erklärt er lachend. »Und Ihr Beruf?«
»Arbeiter. Zur Zeit auf Wanderschaft. Auf Arbeitssuche.«
»Aha. Nun, ich hätte eine kleine Arbeit für Sie. Ist in Minuten erledigt. Und bringt Ihnen zwei Groschen.«
Hubalek blickt Denke erwartungsvoll an. Zwei Groschen, das
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