Der Zwang zur Serie. Serienmörder ohne Maske.
monotonen Selbstvorwürfen ausgeliefert. Schuldgefühle steigern seinen Selbsthaß, sein Selbstmitleid. Er bedauert die Entfremdung vom Vater, seine Isolation, er fürchtet sich vor den Totenschädeln im Schrank, er haßt seine Homosexualität und denkt an Selbstmord.
Aber die zu Reflexen erstarrten Fluchtversuche aus dieser Gefangenschaft treiben ihn unerbittlich immer wieder auf den erlernten, einzig noch möglichen Weg: das gestörte Gleichgewicht zwischen sich und der Mitwelt durch mörderische Aggression wieder in Ordnung zu bringen.
Wenige Tage vor der Zwangsräumung trifft Dahmer im Einkaufszentrum Grand Avenue den zweiundzwanzigjährigen Tracy Edwards. Edwards ist Hilfsarbeiter und vor einigen Monaten nach Milwaukee gekommen. Hier leben seine zwei Brüder und sein Vater. Edwards steht an einem Ausschank und trinkt ein Bier. Dahmer spricht ihn an. Edwards sagt, er habe Langeweile und suche Leute für eine Party. Da sei er bei ihm gerade richtig, erwidert Dahmer, er erwarte noch einige Freunde, mit denen er eine Fete geplant habe. Edwards solle doch mitkommen. Edwards findet Dahmer zwar etwas verwahrlost, sonst aber ganz sympathisch mit seiner weichen Stimme und dem jungenhaften Lächeln.
Mit zwölf Büchsen Budweiser Bier fahren sie in Edwards' Wagen zu Dahmers Wohnung. Edwards wundert sich, daß Dahmers Wohnung durch ein kompliziertes elektronisches Sicherheitssystem verschlossen ist. »Eine unsichere Gegend«, erklärt Dahmer, »man kann nicht vorsichtig genug sein.«
Als sich Edwards in der Wohnung befindet, äußert er erneut Verwunderung. »Wie hältst du es bloß in diesem Gestank aus?« fragt er teilnahmsvoll.
»Ja, leider. Ich muß, der Abfluß ist verstopft. Ich habe mich schon beschwert. Aber setz dich doch.«
Edwards setzt sich auf die Couch, gegenüber dem riesigen Aquarium. Er bedauert bereits, mitgekommen zu sein. Der Gestank nervt ihn. Die Berge schmutzigen Geschirrs widern ihn ebenso an wie Dahmers Mehrtagebart und seine fleckigen Jeans. Ein Bier, sagt sich Edwards, dann gehe ich wieder.
»Wo bleibt das Bier?« fragt er.
»Gleich.« Dahmer geht zum Kühlschrank. Edwards hört das Zischen der geöffneten Bierdose. »Auch was zu essen?« fragt Dahmer, »ich habe Kartoffelchips da und Senf.«
Edwards lehnt ab. Dahmer überreicht ihm ein Bier und setzt sich, gleichfalls eine Büchse in der Hand, neben seinen Gast.
»Wir könnten uns einen Pornofilm ansehen«, schlägt er vor.
Edwards lacht: »Die Realität ist mir lieber. Ich habe sechs Kinder und jede Menge Weiber. Wozu brauche ich da Pornos?«
Dahmer scheint enttäuscht zu sein. Das Gespräch schleppt sich dahin. Edwards hat sich an den Gestank gewöhnt. Er fühlt sich plötzlich sehr müde und starrt schläfrig auf die Fische im Aquarium. Wird plötzlich hellwach, als Dahmer seinen Arm um ihn legt und sich an ihn schmiegt. Er stößt Dahmer zurück: »Nicht mit mir, Freundchen, mit mir nicht!«
Dahmer steht schweigend auf.
Edwards trinkt den Rest Bier aus und stellt die Büchse ab. »Also vielen Dank für das Bier. Ich gehe jetzt lieber. Viel Spaß bei der Party.«
Er will sich erheben, da steht plötzlich Dahmer vor ihm und schließt blitzschnell eine Handfessel an Edwards' linkes Handgelenk. Edwards hält das noch für einen Spaß. Als Dahmer ihm aber ein Messer an die Kehle setzt und ihn auffordert, sich auch die rechte Hand fesseln zu lassen, als er in das verzerrte Gesicht Dahmers blickt, weiß er, der Mann meint es ernst. Die plötzliche Verwandlung des liebenswürdigen Gastgebers in eine wütende Bestie ist erschreckend. »Ich werde dir das Herz herausschneiden und es essen!« Dahmer lacht, und Edwards glaubt, Satan persönlich lachen zu hören.
»Aber bevor du stirbst, machen wir noch ein paar schöne Fotos von dir. Zieh dich aus!«
»Wie denn?« fragt Edwards und hebt seine gefesselten Hände empor.
»Deine Sache. Beeil dich!«
Edwards zweifelt nicht mehr daran, daß dieser Irre ihn töten wird. Er will sich nicht widerstandslos abschlachten lassen. Er beginnt, sich umständlich zu entkleiden. Knöpft langsam, die Schwierigkeit übertreibend, das Oberhemd auf. Und überlegt, wie er sich vor dem Messer in Dahmers Hand retten kann. Aus dem Fenster springen? Die Wohnung liegt zu hoch. Edwards weiß auch nicht, ob Dahmer beim Eintritt in die Wohnung die elektronische Verriegelung aktiviert hat. Wahrscheinlich hat er es getan, um ihn ungestört töten zu können. Ich muß es riskieren, denkt Edwards, wie auch immer die
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