Der Zwang zur Serie. Serienmörder ohne Maske.
mit einem Besenstiel.
4. Kapitel
Die Triebtäter
Das Phantom
An einem Februarabend im Jahre 1929, gegen 18 Uhr, bereitet sich der Fabrikarbeiter Peter Kürten zum Ausgang vor. Er festigt das Haar mit Pomade, zieht einen schnurgeraden Scheitel und verteilt einige Tropfen Kölnisch Wasser im Gesicht. Er überprüft die Bügelfalte der Hose. Die Schuhe glänzen. Er zieht sich einen dunklen Mantel über, setzt sich einen ebenfalls dunklen Hut auf und entnimmt einer Schublade eine langschenkelige Kaiserschere. Über den Griffen der Schere sind die Bilder des letzten deutschen Kaiserpaares eingeprägt. Kürten verläßt die Mansardenwohnung und verschließt die Tür. Seine Frau, die in einer Gaststätte arbeitet, hat noch Spätdienst.
Kürten tritt aus dem ansehnlichen Bürgerhaus und geht beschwingten Schrittes die Mettmanner Straße entlang, ohne ein bestimmtes Ziel. Man sieht es dem schlanken, gepflegten Mann mit den blauen Augen nicht an, daß er bereits 46 Jahre alt ist. Er wirkt wesentlich jünger. Und niemand sieht ihm an, daß er zweiundzwanzig Jahre seines Lebens hinter Gittern verbracht hat.
Den ganzen Tag über, während der Arbeit, hat Kürten den Abend herbeigesehnt, diese Abendstunden, in denen er durch die stillen Vororte Düsseldorfs, über abgelegene Feldwege oder die weiten Rheinwiesen streifen kann. Es sind die Nachtstunden, in denen er über seine Ohnmacht triumphieren kann. Und in denen er das erhält, was ihm keine Frau, nicht die eigene und keine andere, geben kann: den Orgasmus, der über den Rücken jagt wie ein elektrischer Stromschlag. Abend für Abend, wenn seine Frau zur Arbeit ist, tigert Kürten durch Straßen und Einöden auf der Suche nach Macht – nach geborgter Macht für einen Augenblick, in einer Welt, die ihn zur Ohnmacht verdammt hat: als Gefangenen im Zuchthaus, als Proletarier in der Gesellschaft, als Impotenten vor den Frauen.
Heute abend ist er erst eine Viertelstunde unterwegs, als er auf der Behrenstraße einem kleinen Mädchen begegnet. Das Kind schluchzt vor sich hin. »Warum weinst du denn?« fragt Kürten mitfühlend.
Das Mädchen hat eine Freundin besucht und sich auf dem Heimweg verlaufen. »Wie heißt du?« will Kürten wissen. Das Mädchen heißt Rosa und ist neun Jahre alt. Kürten nimmt es an der Hand und verspricht, es nach Hause zu bringen. Getröstet geht Rosa mit.
Bald erreichen sie den Platz, auf dem die Vincenzkirche steht. Hier wird seit Wochen gebaut. An der Rückseite der Kirche befindet sich ein Bretterzaun, der Kirche und Pfarrgarten vom Baugelände trennt. Hinter dem Bretterzaun herrscht Finsternis, kein Laternenschein dringt hierher.
Einige rasche Schritte mit dem Kind an der Hand in einen dunklen Winkel. Wohin denn, fragt Rosa noch erschrocken, dann erstickt der Würgegriff des Mannes jeden weiteren Laut.
Während sich das Kind erstickend in der Hand Kürtens windet, greift er zur Kaiserschere. Das Kind ist tot zu Boden gesunken. Er treibt ihm die Schere tief in die rechte Schläfe und dann in rasender Folge in die Brust, ins Herz, ins Brustfell, in die Leber.
Und das Ersehnte geschieht dabei. Es entlädt sich ein kräftiger Orgasmus.
Die Leiche zu seinen Füßen, verharrt Kürten reglos, entrückt in das Nirwana seines Friedens. Dann bringt er sich wieder in Ordnung und verläßt das Versteck. Die Kirchturmuhr schlägt siebenmal. Kürten braucht nur wenige Minuten bis zu seiner Wohnung. Er geht gemächlich, er fürchtet nichts. Der Mordort war gut gewählt. Ihm ist, als schwebe er über dem Boden, federleicht. Lautlos summt er eine Melodie.
Zu Hause angekommen, reinigt er mit einer Handbürste die Schere vom Blut, wäscht Spermaflecken aus seiner Hose und bereitet sich dann das Abendessen, das er mit Appetit verzehrt. Er blickt auf die Uhr. Es ist Zeit, sich wieder anzukleiden, bald beginnt in den Alhambra-Lichtspielen die Abendvorstellung. Seine Frau hatte ihm die Eintrittskarte schon besorgt.
Als er auf die Straße tritt, ist er versucht, einen Umweg zu nehmen, zur Leiche hinterm Bretterzaun. Aber er verschiebt diesen Gang auf später. Hoffentlich wird die Leiche bald gefunden. In den Zeitungen dann die Sensationsmeldungen! Aufregung in der Bevölkerung! Krisenstimmung bei der Polizei, Ratlosigkeit! Vorige Woche erst, nachdem er diese Frau niedergestochen hatte – wie oft hatte er zugestochen, sie hätte tot sein müssen! Und hatte doch überlebt und den Täter beschrieben: ein junger Mann, etwa dreißig. Dreißig! Er kichert. Ich
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