Der Zwang zur Serie. Serienmörder ohne Maske.
Knochen zu sammeln, bereits seine spätere Sammelwut der Knochen und Schädel und Genitalien seiner Opfer an?
Lionel Dahmer sucht und findet Schuld bei sich selbst:
Schuld in Form »eines sozialen, eines psychischen und, am bedrückendsten, vielleicht auch eines genetischen Vermächtnisses, das Lionel Dahmer seinem Sohn mit auf den Lebensweg gab« (Th. H. Cook).
Das soziale Vermächtnis: Das sind die zerrüttete Ehe der Eltern, die Flucht des Vaters in die »kalkulierbare und überschaubare Welt des Labors«, die Blindheit gegenüber Jeffs wachsender Vereinsamung. Der Vater konnte den Teufelskreis dieser Isolation nicht erkennen: sie gebar in Jeff monströse Phantasien, die ihn hinwiederum vom normalen Leben ausschlössen und somit die Isolierung erneut vertieften.
Das psychische Vermächtnis: Der Vater entdeckt in seiner eigenen Kindheit und Jugend erschreckende Parallelen zur Befindlichkeit seines Sohnes. Auch er litt unter Ängsten vor Einsamkeit und Verlassenwerden, auch unter Zwangsvorstellungen (z. B. der Vorstellung, einen Mord begangen zu haben), unter absonderlichen sexuellen Phantasien. Feuer faszinierte ihn, er bastelte sich Explosivkörper. »Es dauerte lange, bis ich allmählich die Erkenntnis zulassen konnte, daß es Bereiche in Jeffs Gemüt gibt, daß er pervertierte Wünsche kennt, die ich in mir selbst mein Leben lang unterdrückt habe.« Lionel gesteht, wenn er solche Anzeichen auch erkannt hatte, hatte er sie verdrängt und sich damit beruhigt, er selbst habe sie ja auch überwunden und sei kein Verbrecher geworden.
Das genetische Vermächtnis: Lionel Dahmer fragt sich auch, ob er auf seinen Sohn einen »Fluch« verhängt habe: »Einige der Zwänge, denen mein Sohn ausgeliefert war, hatten ihren Ursprung in mir. Die abwegigen Phantasien meiner Jugend, die gewalttätigen Impulse, die in mir aus den kindlichen Gefühlen von Ohnmacht und Minderwertigkeit emporstiegen und die es mir vielleicht schwer gemacht haben, Jeff meine Liebe zu zeigen – all dies hat sich vielleicht von mir auf Jeff übertragen. Als Wissenschaftler weiß ich, welch großen Einfluß die Erbmasse auf die Entwicklung eines Menschen hat.« Allerdings, so schränkt Lionel auch ein, sei das genetische Erbe kein Schicksal, sondern selbst der Ver änderung durch äußere und innere Einflüsse unterworfen, höchstenfalls also eine Art halbierter genetischer Schuld.
So stehen am Ende des Falles Jeffrey Dahmer zwei Schuldbekenntnisse – die des Täters und die seines Vaters. Aber wenn Jeffrey Dahmer erklärte, niemand trage Schuld als er selbst, so ist diesem Bekenntnis in seiner Absolutheit nicht zuzustimmen. Ohne Jeffrey Dahmers eigene Verantwortlichkeit für seine Verbrechen zu mindern, darf doch die Mitverantwortung seiner Umwelt nicht übersehen werden.
Jeff's Vater hat die familiäre Mitverantwortung ungeschminkt benannt.
Die Berichterstatter über den Fall Dahmer – Lisa Holewa und Robert J. Dvorchak – verweisen auf die Mitschuld der Gesellschaft für die langjährige Blutspur Dahmers. Niemand nahm die sich häufenden Alarmsignale ernst.
Die Lehrer ließen Jeffs Clownerien in der Schule durchgehen, mit denen er Aufmerksamkeit erzwingen wollte. Die Armee ging den Ursachen von Dahmers Alkoholismus nicht nach, sondern, das war der einfachste Weg, trennte sich lieber gleich von ihm. Die Polizei versäumte in entscheidenden Augenblicken, sich über Dahmers Vorstrafen kundig zu machen. Sie glaubte einem Mörder, weil er ein Weißer war, mehr als Opfer und Zeugen, weil diese Farbige waren. Die Bewährungshelfer wußten zwar, daß Dahmer sie belog, fanden sich aber damit ab. Die Nachbarn beschwerten sich über den Leichengestank, der aus seiner Wohnung drang, machten sich jedoch keine Gedanken darüber.
»Wenn aber«, so fragen Holewa und Dvorchak, »jeden die Schuld trifft, darf man überhaupt einem einzelnen die ganze Schuld aufbürden?«
Und FBI-Kriminologe Ressler sagte abschließend: »Auf keinen Fall würde ich Dahmer seine siebzehn Morde verzeihen – aber ich verstehe ihre Logik und Dahmers Geisteszustand. Ich beziehe weder für noch gegen Dahmer Stellung. Ich setze mich dafür ein, daß unser Justizsystem so komplizierte Sachverhalte wie Dahmers Morde gerecht beurteilen kann. Auf keinen Fall war er zum Zeitpunkt der Verbrechen zurechnungsfähig. Niemandem wäre mit Dahmers Tode gedient.«
Dahmer erhielt eine lebenslängliche Freiheitsstrafe. Knapp zwei Jahre später erschlug ein Mithäftling Dahmer in der Toilette
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