Der Zwang zur Serie. Serienmörder ohne Maske.
Bevölkerung überfordert und durch falsche Bekenner irregeführt worden. Zudem, so heißt es in dem Bericht von Oberstaatsanwalt O. Steiner und Kriminaldirektor W. Gay, sei die Struk
tur der Polizei damals gerade geändert worden, so daß der bisher enge Kontakt zwischen Polizeirevier und Bürgern sich gelockert habe.
Sonst wäre Kürten früher als Täter verdächtigt worden.
Diese Erklärung kann angesichts der Klage über zu viele Informationen aus der Bevölkerung nicht überzeugen.
Auch die Justiz ist mitverantwortlich für die späte Ergreifung des Serienmörders. Sie hat Kürten nicht als Wiederholungstäter erkannt und behandelt. »Ein Mensch wie Kürten«, kritisierte Dr. Sanders die Justiz, »hätte nach der Liste seiner Vorstrafen schon längst als gemeingefährlich erkannt und im Sinne des Entwurfs des Bewahrungsgesetzes aus der menschlichen Gesellschaft ausgeschieden werden müssen.«
Viel zu spät wies die Polizei die Bevölkerung daraufhin, daß der mutmaßliche Serienmörder ein äußerlich angepaßter, unauffälliger und sogar liebenswürdiger Mensch sein könne. Als dieser Hinweis kam, hatten sich schon mehrere seiner Opfer freiwillig in Kürtens Gewalt begeben.
Schließlich hat Kürten selbst einiges dazu getan, um nicht als Serienmörder erkannt zu werden. Die schon mehrfach genannte »Maske des Biedermannes und Kavaliers« machte ihn unverdächtig, für manche Frauen sogar anziehend. Er nutzte den Schichtdienst seiner Frau aus, um unbemerkt die Wohnung zu verlassen. Er kannte sich hervorragend in Düsseldorf und Umgebung aus und konnte nach seinen Taten anscheinend spurlos, wie ein Phantom verschwinden.
Neben Denke und Haarmann gehört Kürten zu den »Großen Drei«, der Triade der ruchlosesten deutschen Serienmörder in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts.
Das Sandmännchen
Der Tod wandert durch die norddeutsche Landschaft, über Heidewege, durch Kiefernwälder, an schilfigen Seen vorbei.
Der Tod trägt einen schwarzen Mantel und einen breitkrempigen Hut. Ein Rucksack beugt seinen Rücken. Die Tasche in seiner Hand enthält Uhren.
Einst galt die Sanduhr als Requisit des Todes: Das Leben verrinnt wie der Sand im Stundenglas.
Aber dieser Tod hat kein Stundenglas. Seine Uhren sind Wecker, Armbanduhren, Taschenuhren. Manchen fehlen die Zeiger, manchen der Glasdeckel. Manche ticken leise, manche sind stumm.
Kein Stundenglas. Aber auch diese Uhren zeigen irgendwann irgendwem seine letzte Stunde an. Und die bestimmt der Tod im schwarzen Mantel mit dem breitkrempigen Hut.
Der Tod ist ein Uhrmacher. Er heißt Adolf Seefeldt und wandert Mitte der 30er Jahre durch Norddeutschland. Er klopft an die Türen der mecklenburgischen und brandenburgischen Häuser, in Dorf und Stadt, und bietet sich an, Uhren zu reparieren, zu kaufen und zu verkaufen. Er ist ein geschickter Uhrmacher. Sein Lohn ist bescheiden, einige Groschen oder eine warme Mahlzeit.
Seefeldt zieht durch Schwerin und Rostock, durch Wismar und Lübeck, Ludwigslust und Wittenberge, verschwindet und kehrt wieder an die gleichen Orte zurück.
Er hat kein Zuhause. Selten mietet er sich ein billiges Quartier. Manchmal übernachtet er bei einem Kunden. Am liebsten schläft er in den Wäldern. In einer Kiefernschonung scharrt er sich eine Mulde aus, bettet sich zwischen Zeitungspapier, streckt sich aus und denkt, wie schön es wäre, einmal im Wald zu sterben.
Seefeldt ist freundlich und einem Schwätzchen bei seiner Arbeit nicht abgeneigt. Er erzählt wundersame Erlebnisse. Zuweilen spricht Gott zu ihm und sagt ihm, er solle alle Menschen lieben. Er rühmt sich der Kenntnis geheimnisvoller Gifte und rätselhafter Kräfte, mit denen er Mensch und Tier seinem Willen unterwerfen könne. So ist Seefeldt überall gern gesehen. Die Erwachsenen lauschen ihm neugierig, die Kinder laufen hinter ihm her, denn Onkel Ticktack schenkt ihnen Bonbons oder auch einmal eine alte Uhr.
Adolf Seefeldt ist meist sehr lustig, aber man kennt ihn auch traurig. Das Leben hat mir viel Leid zugefügt, sagt er dann, es ist wohl besser für die Menschen, sie würden schon als Kinder sterben. Dann erlitten sie nicht so viel Elend. Vor solchen trüben Gedanken erschrecken die Leute und haben Mitleid mit dem grauhaarigen alten Herrn.
Und ahnen nicht, wie vielen Kindern er schon das Leid erspart hat, erwachsen zu werden.
Der Tod ist ein Uhrmacher. Er gibt toten Uhren das Leber, zurück. Und gibt lebenden Menschen den Tod.
Am 16. Februar 1935, einem Sonnabend,
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