Der zweite Gral
seinem Schreibtischstuhl auf, kam auf sie zu und begrüßte sie mit einem knappen Nicken. Dabei verzog er keine Miene. »Wie war Ihr Wochenende?«
»Sehr schön«, antwortete sie und lächelte schüchtern. »Zu kurz, wie immer.«
Goldmann blieb ernst. »Ich habe gehört, dass Sie in Paris waren.«
»Woher wissen Sie das?«
Goldmann bedachte Leclerc mit einem kurzen Seitenblick. »Ich habe ihn gebeten, ein wenig auf Sie aufzupassen«, sagte er. »Am Freitag wirkten Sie ziemlich schwach und zerbrechlich. Dann noch dazu der Schock über das neue Verfahren der Frischzellengewinnung ... Ich wollte Gewissheit, dass es Ihnen gut geht.«
Mit ihrem Gefühlsausbruch im Frischzellen-OP hatte sie Goldmanns Misstrauen erregt, das war ihr klar gewesen. Sie hatte zwar gehofft, ihn durch vorgetäuschte Einsicht in Sicherheit zu wiegen, hatte aber auch mit der Möglichkeit gerechnet, beschattet zu werden. Insofern war sie nicht sonderlich überrascht.
»Ich weiß, dass Sie sich in Paris mit einer Frau getroffen haben, und ich frage mich, wer diese Frau gewesen ist«, sagte Goldmann. »Überhaupt interessiert mich, was Sie in Paris zu tun hatten.« Er musterte sie mit strengem Blick – ein Zeichen dafür, dass er eine Antwort verlangte.
Reyhan nickte. Für den Fall, sich rechtfertigen zu müssen, hatte sie sich bereits eine Geschichte zurechtgelegt. »Sie haben Recht«, sagte sie zu Doktor Goldmann. »Ich fühle mich derzeit nicht besonders gut, und das, obwohl ich in den letztenzwölf Monaten fast ausschließlich das Bett gehütet habe. Ich spüre, dass meine Kraft schwindet, mit jedem Tag ein bisschen mehr.« Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie waren nicht einmal vorgetäuscht. »Ich habe am Freitag einen Teil des Gesprächs belauscht, das Scheich Assad mit Ihnen geführt hat«, gab sie zu. »Wie Sie darüber sprachen, dass meine Krankheit durch die Therapie nicht heilbar sei. Deshalb bin ich übers Wochenende nach Paris geflogen. Ich wollte mir den Jugendtraum erfüllen, wenigstens einmal im Leben die Stadt zu sehen, den Louvre, die alten Meister – wenn auch nur kurz.«
»Und diese Frau im Museum?«
»Eine Zufallsbekanntschaft. Ich kannte sie nicht. Sie interessierte sich für eins der Gemälde, und so kamen wir ins Gespräch.«
Leclerc und Goldmann wollten mehr Details wissen, und so flunkerte Reyhan ungehemmt weiter. Dass die Frau Kunstkritikerin sei. Dass sie von Paris aus nach Mekka unterwegs war und einen Zwischenstopp in Jeddah eingelegt habe. Dass sie Reyhan auf einen Kaffee in ihr Hotel eingeladen hatte.
So ging es eine ganze Weile. Auf jede Frage wusste Reyhan eine passende Antwort. Schließlich schienen die beiden Männer zufrieden.
»Bitte verzeihen Sie mir«, sagte Doktor Goldmann, als er ihr am Ende des Gesprächs die Hand drückte und offensichtlich wieder um ihre Zuneigung warb. »Ich hätte Ihnen mehr Vertrauen entgegenbringen sollen. Aber die Last der Verantwortung ist nicht immer leicht zu tragen.«
»Sie müssen sich nicht bei mir entschuldigen.«
»O doch. Auch, weil ich Ihnen übertriebene Hoffnungen gemacht habe, was Ihre Krankheit angeht. Die Wahrscheinlichkeit, dass meine Therapie bei Ihnen anschlägt, ist in der Tat sehr gering. Dennoch besteht eine Chance.« Er blickte ihr fest in die Augen. »Um Ihnen zu zeigen, wie ernst ich es meine, biete ich Ihnen an, sich als eine der Ersten behandeln zu lassen. Was halten Sie davon?«
Reyhan schüttelte energisch den Kopf und wich einen Schritt zurück, doch Goldmann fasste sie bei den Handgelenken. »Was haben Sie zu verlieren?« Er sprach so eindringlich, dass es Reyhan durch und durch ging. »Die Geschichte der Medizin ist gespickt mit Zufallserfolgen. Niemand kann mit Sicherheit sagen, wie die Therapie bei Ihnen wirkt. Auch ich nicht. Aber selbst im schlimmsten Fall wird sie Ihnen nicht schaden. Sie können nur gewinnen.«
Es war wie Musik in ihren Ohren. Eine Sinfonie. Eine süße Verlockung. Doch als Reyhan sich vor Augen führte, dass andere Menschen würden sterben müssen, um ihr eine Chance auf ein längeres Leben zu ermöglichen, fiel ihr die Entscheidung leicht.
Goldmann, der ihre Antwort wohl ahnte, sich aber nicht damit zufrieden geben wollte, bedachte sie mit einem hypnotischen Blick. »Überlegen Sie es sich wenigstens. Sie würden damit nicht nur sich selbst und Ihrer Familie einen Gefallen tun, sondern auch mir. Ich mag Sie.«
Jetzt war es also heraus. Reyhan wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Früher hatte sie
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