Der zweite Gral
Schluckimpfung. »Dieser Auslöser ist eine Abart des Epstein-Barr-Virus – des einzigen Virus, das nachweislich Krebs auslösen kann. Wir haben es ein wenig modifiziert. Jetzt wirkt es nicht nur schneller, sondern auch effizienter. Es befallt binnen weniger Tage den gesamten Organismus und löst Krebs aus.«
Nangalas Zunge fühlte sich pelzig an, als wäre sie ein Fremdkörper. »Sie wollen mich umbringen!«, stieß er hervor.
»Ganz und gar nicht. In einer Woche wird das Virus seine Arbeit getan haben. Dann unterziehen wir Sie einer Frequenzbehandlung. Bei der von uns künstlich hervorgerufenen Krebsart ist sie ein überaus zuverlässiges Heilverfahren. Außerdem tötet sie das Virus ab. Mit anderen Worten: Sie werden vollständig geheilt – vorausgesetzt, die Behandlung wird präzise durchgeführt. Aber seien Sie unbesorgt. Bei uns sind Sie in besten Händen. Alles, was Ihnen unser Krebs-Virus hinterlässt, ist ein langes, ein sehr langes Leben.«
Es klopfte, und ein blonder Mann mit Bürstenhaarschnitt steckte den Kopf zur Tür herein. »Ich habe den Jungen«, sagte er.
Goldmann nickte. »Wo ist er?«
»In der Kammer neben Ihrem Büro. Ich habe ihn mit einem Schlafmittel ruhig gestellt.«
»Ausgezeichnet. Richten Sie Mademoiselle Abdallah aus, dass ich in einer halben Stunde noch einmal mit ihr sprechen möchte.« Dann wandte er sich wieder Anthony Nangala zu. »So, und jetzt zu Ihnen«, sagte er, während er sich von einem Assistenten eine Spritze geben ließ. Die Flüssigkeit darin war blutrot wie der Tod.
54.
D as Baibar-Hotel in al-Quz lag nur wenige hundert Meter von Scheich Assads Palast entfernt. Vom Fenster ihres Zimmers im vierten Stock konnte Lara am Ende einer kerzengeraden Straße die zinnenbewehrten Festungsmauern erkennen.
Sie seufzte und fragte sich, ob es tatsächlich gelingen könnte, die Gefangenen zu befreien. Emmet saß hinter ihr am Tisch und grübelte stumm über den Grundrissen der Palastanlage. Auch er schien nicht mehr ganz so überzeugt vom Erfolg ihres Vorhabens, obwohl er es nicht offen zugeben wollte.
Vielleicht ist er immer noch eingeschnappt, weil ich mit Interpol zusammengearbeitet habe, dachte Lara. Seit sie Emmet davon erzählt hatte, war das Verhältnis zwischen ihnen angespannt.
Sie hörte ein Geräusch im Flur, dann eine Stimme: »Sind Sie da? Ich bin’s, Reyhan. Machen Sie auf!«
Lara öffnete. Vor ihr stand Reyhan Abdallah. Sie war völlig aufgelöst. Ihre Augen waren glasig und rot, als hätte sie geweint. Außerdem wirkte ihr Blick wie der eines gehetzten Tieres.
»Kommen Sie rein«, sagte Lara und bugsierte Reyhan ins Zimmer. »Was ist passiert?«
Schluchzend redete die Frau sich ihren Kummer von der Seele. Goldmann hatte ihren Sohn geschnappt und missbrauchte ihn als Druckmittel, um sie zur Kooperation zu zwingen. Auf sein Drängen hatte sie ihm auch erzählt, dass Emmet und Lara in den Palast eindringen und die Gefangenen befreien wollten.
»Er glaubt, dass Sie am Mittwoch zuschlagen wollen, wie wir es ausgemacht hatten«, sagte sie. »Inzwischen weiß ich aber, dass Goldmann und die anderen sich schon morgen Früh therapieren lassen wollen. Auch die Frischzellen werden ihnen dann verabreicht. Das heißt, wir müssen unsere Aktion vorverlegen.«
Emmet fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht. »Damit bleibt uns kaum Zeit für Vorbereitungen, was meine bisherige Planung so ziemlich über den Haufen wirft.«
»Wir haben keine andere Wahl.«
Emmet nickte. »Sie haben Recht. Wir müssen unser Möglichstes tun.« Er warf einen Blick auf die Uhr. »Um überhaupt eine Chance zu haben, die Gefangenen zu befreien, ist es erforderlich, dass wir Hand in Hand arbeiten. Was wir brauchen, ist ein exakter Zeitplan. Wie lange können Sie hier bleiben?«
»Ich habe momentan schichtfrei, aber Goldmann lässt meine Wohnung bewachen. Ich musste mich aus einem Hinterfenster schleichen, um zu Ihnen zu kommen. Denselben Weg muss ich auch zurück wieder nehmen, sonst mache ich mich verdächtig.« Sie hielt inne, überlegte, rechnete. »Meine Nachtschicht beginnt um zwanzig Uhr. Eine Stunde vorher sollte ich wieder in meiner Wohnung sein. Um dorthin zu gelangen, brauche ich knapp dreißig Minuten. Das heißt, ich habe Zeit bis halb sieben.«
»Also noch drei Stunden«, stellte Emmet fest. »Nicht gerade viel, aber es muss eben reichen. Ab sofort ist Improvisation angesagt.«
Pünktlich zum Schichtbeginn war Reyhan Abdallah wieder im Labor. Wenn sie daran dachte, wie die
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