Der zweite Gral
hinsehen. Ein Mann saß am Lenkrad, schätzungsweise Mitte fünfzig, mit weißem Haar und weißem Vollbart. Er sah Emmet ein wenig ähnlich, aber er war es nicht. Ein Stein der Erleichterung fiel Lara vom Herzen. Sie hatte sich getäuscht.
Sie wendete an der nächsten Kreuzung, fuhr zurück und bog wieder in die Hauptstraße ein. Aber schon wenige Kilometer später sah sie den cremefarbenen Geländewagen wieder hinter sich. Das konnte kein Zufall sein.
Vielleicht ist dieser Kerl die Ablösung für den blonden Sportler, dachte Lara. Ein zweiter Wachhund von Tanaka.
Die Erklärung erschien ihr plausibel. Zugleich ärgerte sie sich, weil Gamoudi wohl nicht allzu begeistert reagieren würde, wenn er feststellte, dass Lara einen Interpol-Beamten im Schlepptau hatte.
Als sie die nächste Telefonzelle am Straßenrand erblickte, parkte sie ihren Wagen auf dem Seitenstreifen, kramte denZettel aus der Hosentasche, den Tanaka ihr bei ihrem ersten Zusammentreffen gegeben hatte, und wählte seine Nummer. Schon nach dem ersten Klingeln nahm er ab.
»Wenn Sie Ihre Silberlocke nicht zurückpfeifen, könnte es sein, dass ich den morgigen Tag nicht erlebe«, zischte sie ungehalten. »Sie bringen mich in Lebensgefahr!«
»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«
»Hören Sie auf mit den Spielchen! Zuerst der gut aussehende Blonde, jetzt der nette Onkel in Weiß. Halten Sie mich für blind? Ich bitte Sie lediglich darum, mir ein klein wenig mehr Vertrauen entgegenzubringen. Würde ich nicht mehr mit Ihnen zusammenarbeiten wollen, wäre ich mit Emmet längst über alle Berge verschwunden. Gelegenheit dazu hätten wir jedenfalls gehabt.«
Sie wusste, dass Tanaka die Anspielung verstehen würde. Nach der Nacht, in der Emmet und sie Gamoudi getroffen und anschließend die Palast-Grundrisse aus Larbis Architektenbüro gestohlen hatten, hätten sie nicht wieder ins Jeddah Sheraton zurückkehren müssen. Es wäre für Lara ein Leichtes gewesen, Emmet zu einer anderen Unterkunft zu überreden. Sie hätte ihm nur die Wahrheit sagen müssen, nämlich, dass Interpol ihnen auf den Fersen war. Aber sie hatte es nicht getan.
Am anderen Ende der Leitung meldete Tanaka sich wieder zu Wort. »Ich habe Ihnen niemanden auf die Fersen geschickt. Nicht, weil ich Ihnen vertraue. Aber ich glaube, dass Sie eine clevere Frau sind. Sie wollen nicht für den Rest Ihres Lebens vor Interpol davonlaufen, weil Sie einem Mörder zur Flucht verholfen haben. Deshalb weiß ich, dass Sie mich stets auf dem Laufenden halten werden. Ergo: Ich muss Sie nicht verfolgen lassen. Wen immer Sie gesehen haben – er ist nicht von Interpol.«
Lara brauchte einen Moment, um die Tragweite dieser Neuigkeit zu begreifen. Ohne ein weiteres Wort hängte sie den Hörer auf die Gabel.
Sie fragte sich, ob der Weißhaarige einer von Gamoudis Männern war. Beim nächtlichen Treffen im Keller des Bauernhauses war er aber nicht dabei gewesen. Sie beschloss, den Kerl abzuschütteln, nur um sicherzugehen.
Dann kam ihr plötzlich eine Eingebung: War die Ähnlichkeit mit Emmet nicht viel zu augenfällig, als dass es sich dabei um einen Zufall handeln konnte? Was, wenn dieser Mann sie nicht erst seit heute beobachtete?
Ein schrecklicher Verdacht keimte in ihr auf.
Sie setzte sich in den Wagen und fuhr los. Ein gutes Stück hinter ihr fädelte sich jetzt auch der cremefarbene Jeep wieder in den Straßenverkehr ein.
Kurz vor der Ortsgrenze bog Lara abermals in eine Querstraße ab. Jetzt hielt sie geradewegs auf ein verwaist wirkendes Industriegelände zu. Hinter einem zerfledderten Maschendrahtzaun erkannte sie mehrere turmhohe Stahlsilos, verbunden durch ein Geflecht aus rostigen Rohren und abgehalfterten Förderbändern. Daneben stand eine große Lagerhalle mit zerschlagenen Fensterscheiben.
Sie parkte ihren Kombi neben dem Zaun und passierte das halb geöffnete Fabriktor. Ohne sich nach ihrem Verfolger umzudrehen, ging sie auf die Lagerhalle zu.
Ich brauche ein paar Antworten, dachte sie entschlossen. Und ich werde sie mir holen.
Tom Tanaka kam sich vor wie in einer Gefängniszelle. Die Enge des Überwachungswagens machte ihn allmählich kribbelig. Er kam sich vor wie lebendig begraben. Gelegentlich vertrat er sich an der Uferpromenade die Beine, um nicht völlig einzurosten. Doch Jussuf Ishak, der Techniker, war zäh wie ein Stück Leder. Seit sie das Jeddah Sheraton überwachten, hatte er sich noch kein einziges Mal beklagt, weder über die Hitze noch über die Enge, noch über
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