Der zweite Gral
Entführung zu tun? All diese Fragen machten Emmet zu schaffen. Er fröstelte.
»Lass uns runtergehen«, sagte er. »Ich will noch ein paar Vorbereitungen für die Sitzung treffen. Tu mir den Gefallen undinformiere die anderen. Sag ihnen, sie sollen sich bereithalten. Es könnte jederzeit ein Alarm losgehen.«
Als sie zur Wendeltreppe gingen, bemerkte Emmet, dass nun auch Donna Greenwoods Miene besorgt wirkte.
12.
E ine Stunde später saß Lara Mosehni an der langen Holztafel in der großen, dämmrigen Halle und wartete gespannt auf den Beginn der Sitzung. Sie hatte schon einmal an einem dieser Treffen teilgenommen, wusste also ungefähr, was auf sie zukam. Dennoch verspürte sie ein Kribbeln in der Magengegend, eine Mischung aus Vorfreude und Nervosität. Außerdem kam sie sich irgendwie unwirklich vor. Als habe eine höhere Macht sie in eine andere Zeit versetzt. Ins Mittelalter, um genau zu sein.
Die Halle, in der sie sich befand, war riesig. Die nackten Steinmauern ragten weit in die Höhe und schienen sich in der Dunkelheit des Deckengewölbes zu verlieren. Die wenigen Fenster wirkten angesichts der Größe des Raumes umso kleiner. Wie Gucklöcher oder Schießscharten. Wenigstens ließen sie ein paar Sonnenstrahlen ins Innere.
Das prasselnde Feuer im offenen Kamin konnte den Saal nicht erwärmen. Die Luft war kalt und roch abgestanden, wie in einem feuchten, muffigen Keller, der zu selten gelüftet wurde. Laras Hände fühlten sich klamm an.
An den Wänden hingen zwischen mehreren großen, prachtvoll bestickten Wandteppichen zahlreiche Schwerter und Lanzen. An manchen Stellen loderten Fackeln. In den vier Ecken des Zimmers standen Ritterrüstungen.
Laras Aufmerksamkeit richtete sich auf die anderen Teilnehmer der Sitzung – drei weitere Frauen und sieben Männer. Hätten sie Kettenhemden und wallende Gewänder getragen, wäre Lara sich tatsächlich wie in einem anderen Zeitalter vorgekommen. Doch die anderen Personen trugen ausnahmslos legere Freizeitkleidung – Hemden, Pullover, Stoffhosen oder Jeans. Ein Anachronismus angesichts des Ambientes.
Als Emmet Walsh sich von seinem Platz erhob, verstummten die Gespräche. Er ging zum Kopfende der Tafel, sodass jeder ihn gut sehen konnte. In der Hand hielt er eine Fernbedienung. Als er einen Knopf drückte, sprang der transportable Videobeamer an, den er vor sich auf dem Tisch positioniert hatte. Gleichzeitig surrte aus dem Boden eine weiße Leinwand in die Höhe. Damit war definitiv die Moderne in diese mittelalterliche Festhalle eingekehrt.
Emmet Walsh begrüßte die Gruppe und stellte klar, weshalb Anthony Nangala heute nicht anwesend war. Er schlug vor, im Lauf der Sitzung einen gemeinsamen Plan auszuarbeiten, wie in dieser Sache weiter vorgegangen werden solle. Der Vorschlag wurde einstimmig angenommen.
Nach der Eröffnungsrede kam Emmet Walsh zum Hauptpunkt der Tagesordnung. Wie üblich musste jeder in der Runde einen Statusbericht über den aktuellen Stand seines Projekts abgeben. Emmet selbst machte den Anfang.
Er erläuterte noch einmal seinen Auftrag, den er vor einem halben Jahr übernommen hatte – Projekt »Elfenbein«. Per Beamer zeigte er mehrere Statistiken über den illegalen Handel mit Elefantenstoßzähnen und berichtete anschließend von seiner zweimonatigen Tour durch das südliche Afrika, bei der er insgesamt neun Wildererbanden das Handwerk gelegt hatte. Als er eine Stunde später seinen Vortrag beendete, erntete er anerkennendes Nicken. Applaus oder gar lobende Worte gab es in diesem Kreis nie.
Danach ging das Wort an Rodrigo Escobar, dem Nächsten in der Reihe. Escobar war ein etwa fünfundvierzigjähriger Baske mit haselnussbraunen Augen und schwarzem, glänzendem Haar, das im Schein des Kaminfeuers golden schimmerte. Würdevoll ging er zum Platz am Kopfende des Tisches. Seine Schritte hallten von den Wänden wider.
Sein Projekt trug den Namen »Toro« und war gegen die Grausamkeiten des spanischen Stierkampfs gerichtet, der von Ostern bis Oktober an jedem Sonn- und Feiertag veranstaltet wird. Über den Videobeamer führte Escobar einen kurzen Film vor. Gleichzeitig erläuterte er die Details.
Die erste Szene zeigte den Paseo, den feierlichen Einzug der Stierkampfgruppe in die ausverkaufte Arena von Madrid. Die Männer, teils zu Fuß, teils auf Pferden, trugen traditionell die prunkvollen Kostüme des 17. Jahrhunderts und wurden von der Zuschauermasse frenetisch empfangen. Ihnen folgten die Chulos, die Tuchschwenker, mit
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