Der zweite Gral
auf. »Der Angriff auf Leighley Castle«, murmelte er. »Interpol hätte keine Kampfhubschrauber auf uns angesetzt. Das heißt, entweder die Zahlenreihe auf deinem Zettel ist doch nicht der Anschluss von Interpol, oder die Burg wurde von jemand anderem zerstört. Was uns wiederum zu Anthonys Kidnappern führt.« Er machte eine Pause, um nachzudenken. »Ich schlage vor, du bleibst vorerst in Isfahan. Versuch, noch mehr über den Japaner herauszufinden. Wenn er praktisch nie seine Wohnung verlassen hat, wie du sagtest, muss es Leute geben, die ihn versorgten – mit Nahrungsmitteln und anderen Dingen des täglichen Bedarfs. Sprich noch einmal mit dem Wohnungsvermieter. Vielleicht weiß er etwas, das ihm unwichtig vorkam, uns aber weiterbringt.«
Sie beendeten das Gespräch. Emmet duschte, rasierte sich und ging ins Restaurant. Während er eine Muschelsuppe aß, den ersten von fünf Gängen, überkamen ihn wieder die Erinnerungen an Schottland. Die Zerbombung der Burg. Der Tod seiner Freunde und Gesinnungsgenossen. Je länger er darüber nachdachte, desto stärker wurde seine Überzeugung, dass dieses Desaster nicht auf das Konto des Japaners ging. Die Übereinstimmung der Zififernfolge mit der Telefonnummer von Interpol konnte kein Zufall sein.
Nein, die Ursache der Katastrophe in Schottland liegt am Ende der Spur, die Anthony Nangala zuletzt verfolgt hat, dachte Emmet. Die Spur der Vermissten. Die Spur des schwarzen Dämons.
28.
Universität von Kalifornien, Los Angeles (UCLA)
Fakultät für Biologie und Genetik
D er Hörsaal war bis auf den letzten Platz belegt, dennoch war es mucksmäuschenstill. Niemand tuschelte mehr oder schrieb sich Briefchen. Sogar die beiden aufreizenden Blondinen in der dritten Reihe, die bislang nur mit ihren Sunnyboy-Nebensitzern geflirtet hatten, waren verstummt und richteten ihre Aufmerksamkeit nun nach vorn. Doktor Thomas Briggs, Gastdozent an der UCLA, stellte zufrieden fest, dass alle Blicke gebannt auf ihn gerichtet waren – und das, obwohl man ihn schwerlich eine eindrucksvolle Erscheinung nennen konnte. Mit seinen ein Meter einundsiebzig war er eher klein für einen Mann, und alles an ihm wirkte ein wenig zierlich und zerbrechlich. Auf viele, die ihn kennen lernten, machte er im ersten Moment einen verschüchterten, in sich gekehrten Eindruck, dabei war das genaue Gegenteil der Fall. Vor allem, wenn er über eins seiner Forschungsgebiete sprach, strotzte der Fünfundvierzigjährige vor Selbstbewusstsein – so auch jetzt.
Er ließ sich Zeit, genoss das Gefühl, im Mittelpunkt zu stehen. Dabei wanderte sein Blick durch die Reihen. Sein Auditorium war gemischt. Natürlich waren die meisten Zuhörer Studenten, aber auch einige Professoren hatten den Weg hierher gefunden. Und in der oberen Reihe glaubte Briggs eine Reporterin zu erkennen, der er schon einmal ein Interview gegeben hatte. Vermutlich war sie nicht die einzige Pressevertreterin im Saal.
Erfahrungstransfer durch chemische Botenstoffe, so lautete das Vortragsthema. Es war nicht gerade dazu angetan, Begeisterungsstürme zu entfachen, doch als geübter Redner wusste Briggs, wie er seine Zuhörer bei der Stange halten konnte. Irgendwie musste sich das herumgesprochen haben.
»Bis in die jüngste Vergangenheit glaubten kannibalistische Völker, dass die Kraft ihrer Feinde auf sie übergehe, wenn sie deren Fleisch aßen«, sagte er mit fester Stimme. »Und das nicht nur in einem allgemeinen Sinne, sondern durchaus spezifisch. Sie aßen die Herzen der Toten in der Hoffnung auf ein längeres Leben. Sie aßen andere innere Organe, um ihre Gesundheit zu festigen. Und sie aßen die Hoden zur Stärkung der Manneskraft.« Er schmunzelte, als er sah, wie einige Zuhörer die Gesichter verzogen, insbesondere die Sunnyboys neben den beiden Blondinen. »Doch was uns als barbarischer Aberglaube erscheint, ist längst wissenschaftlich bewiesen. Schon Anfang des 16. Jahrhunderts schrieb der Arzt und Gelehrte Paracelsus: Gleiches heilt Gleiches. Wer eine schwache Leber hat, soll Leber zu sich nehmen, wer eine schwache Niere hat, eine Niere. Und wer Potenzprobleme hat... nun, ich nehme an, Sie wissen, worauf ich hinauswill.«
Wieder machte er eine kleine Pause, bevor er den Faden wieder aufnahm.
»Gleiches heilt Gleiches. Obwohl Paracelsus als Gründervater der modernen Medizin gilt, war er beileibe nicht der Erste, der auf diesen Leitsatz kam. Bereits um 1500 vor Christus wurde im wohl wichtigsten Buch der altägyptischen Heilkunst,
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