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Der zweite Gral

Der zweite Gral

Titel: Der zweite Gral Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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dem Papyrus Ebers, ein Mittel gegen Impotenz beschrieben. Es wurde aus Stierhoden hergestellt. Ähnliche Praktiken fanden überall auf der Welt Anwendung. Plinius der Ältere zum Beispiel – er lebte etwa zur selben Zeit wie Jesus und war römischer Befehlshaber – schwor auf die Hoden junger Wildeber zur Regenerierung der Manneskraft. Und die Hindus nahmen Tränke zu sich, die aus Tigerhoden zubereitet waren.«
    Briggs ließ den Blick in die Runde schweifen. Seine Zuhörerschienen abgestoßen und fasziniert zugleich. Sie klebten ihm an den Lippen. Briggs war sich nun sicher, auf sein eigentliches Thema überleiten zu können, ohne die allgemeine Aufmerksamkeit zu verlieren.
    »Meine Großmutter sagte früher oft zu mir: ›Iss Hirn junge, damit du gescheit wirst.‹ Dann musste ich stets zwei Teller Rinderhirnsuppe auslöffeln. Im Grunde tat ich damit dasselbe wie die alten Ägypter, Römer und Hindus. Nicht zu vergessen die Kannibalen. Ich aß Teile eines bestimmten Organs, um mir dessen Qualitäten einzuverleiben. Nun, vielleicht würde ich heute nicht vor Ihnen stehen, hätte meine Großmutter mich nicht mit Hirnsuppe verköstigt.«
    Ein Kichern ging durch die Reihen. Briggs hatte die Erfahrung gemacht, dass kleine Anekdoten bei den Zuhörern gut ankamen. Sie lockerten den Stoff auf und gaben dem Vortrag eine persönliche Note, auch wenn sie – wie in diesem Fall – frei erfunden waren.
    Wieder erhob er seinen Bariton: »Allerdings hätte ich die Suppe meine Großmutter vermutlich niemals angerührt, wären mir damals schon die Plattwurm-Versuche von Thompson und McConnell bekannt gewesen. Die beiden Forscher fanden nämlich heraus, dass Erfahrungen und Verhaltensweisen eines Lebewesens durch dessen Verfutterung übertragen werden können. Sie beeinflussten bestimmte Verhaltensmuster von Plattwürmern, töteten sie und verarbeiteten sie zu einem Zellbrei, den sie anderen Plattwürmern zu fressen gaben. Diese Plattwürmer verfugten daraufhin über dasselbe Verhaltensrepertoire wie das ihrer verspeisten Artgenossen. Erfahrungen scheinen demnach an gewisse chemische Zellsubstanzen gebunden zu sein.«
    Er ließ die Worte wirken und nahm einen Schluck Wasser. »Professor Gay von der Universität Western Michigan führte ähnliche Experimente mit Ratten durch und kam zu demselben Ergebnis. Er versetzte Versuchstieren über mehrere Tage hinweg Stromschläge, bis sie verängstigt waren. Aus den Gehirnen der getöteten Tiere gewann er eine Injektionslösung, die er anderen, unvorbelasteten Ratten spritzte. Daraufhin verhielten diese Tiere sich genauso ängstlich wie jene, die zuvor misshandelt worden waren. Professor Ungar vom Baylor Medical College der Universität Houston ging sogar noch einen Schritt weiter und stellte fest, dass diese Art und Weise des Erfahrungstransfers auch artübergreifend stattfinden kann. Konkret heißt das, dass Erfahrungen von Ratten auf Mäuse übertragen werden können und umgekehrt. Ungar gelang es sogar, einen speziellen Gedächtnisstoff aus den Hirnen von 4000 Tieren zu filtern, denen er zuvor mit Stromschlägen die Angst vor Dunkelheit beigebracht hatte. Er nannte das Extrakt Scotophobin. Der Begriff Scotophobie kommt aus dem Griechischen und bedeutet Dunkelangst. Scotophobin kann mittlerweile sogar synthetisch hergestellt werden. Ein Gedächtnismolekül aus dem Chemiekasten sozusagen. In jüngster Zeit konnten weitere Gedächtnismoleküle identifiziert und künstlich hergestellt werden.«
    Er schaltete den Overheadprojektor an und schrieb mehrere Literaturhinweise auf eine Folie.
    »Zurück zu meiner Großmutter«, sagte er, »und der Rinderhirn-Suppe, die sie mir regelmäßig zu essen gab. Wenn Hirnsubstanz chemische Erfahrungsstoffe enthält, die durch die Einnahme von Nahrung gewissermaßen übertragbar sind – weshalb läuft mir dann beim Anblick grüner Weiden nicht das Wasser im Mund zusammen? Weshalb gerate ich nicht in Panik, wenn ich im Supermarkt um die Ecke einem Metzger gegenüberstehe? Wissenschaftliche Erkenntnisse über den Erfahrungstransfer auf Menschen existieren natürlich nicht, aber grundsätzlich kommen drei Erklärungsansätze in Betracht. Erstens: Die in der Suppe meiner Großmutter enthaltenen Mengen an Erfahrungsstoffen waren verschwindend gering oder wurden durch das Aufkochen unbrauchbar. Zweitens: Die Gedächtnismoleküle zwischen Rindern und Menschen sind inkompatibel, also zu verschieden, als dass sie übertragen werden können. Oder drittens«,

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