Der zweite Gral
Sprache der Beja vor, dem Bedawiyyet, wie er erklärte. Anschließend setzten die beiden sich zu N’tabo auf die Bastmatte am Boden.
Nachdem er sich an das Schummerlicht gewöhnt hatte, erkannte Emmet zwei silbern schimmernde Ringe in der Nase des Alten. Aus dem Mundwinkel ragte eine lange Pfeife. Die kleinen Augen schienen nichts übersehen zu können. Unter dem roten Umhang tauchte ein dünner, verrunzelter Arm auf, mit dem er auf eine Blechkanne zeigte. Dabei krächzte er etwas, das Emmet nicht verstand.
Der Metzger übersetzte: »Er fragt, ob Sie einen Kaffee wollen.«
Emmet dachte an sein schwaches Herz und seufzte innerlich.
»Gern«, sagte er.
Wenig später saßen sie zu dritt im Kreis und unterhielten sich.
»Es ist eine Strafe«, übersetzte der Metzger die Worte N’tabos, der mit Grabesstimme seine Geschichte erzählte.
»Eine Strafe?«, wiederholte Emmet. »Wofür?«
»Dafür, dass wir unseren Glauben verloren haben.«
»Den Glauben an den Islam?«
Der Alte schnaubte verächtlich. Wieder übersetzte der Metzger seine Worte: »Den Glauben an uns selbst! Wir haben unser traditionelles Recht, das Salif, den sudanesischen Gesetzen unterworfen, und wir achten die islamische Sharia mehr als die Religion unserer Väter und Großväter. Wir verleugnen immer mehr unsere Wurzeln. Wir vergessen, wer wir sind. Das hat die Geister erzürnt.« Der Alte machte eine Pause und sog, innerlich bebend, an seiner Pfeife. »Vor allem die jungen Menschen wenden sich von der Tradition ab, um ein anderes, modernes Leben zu fuhren. Sie verlassen das Dorf und ziehen in die Städte. Ziegen- und Kamelhirten zu sein genügt ihnen nicht mehr. Sie wollen Autos und Fernsehapparate. Es gibt nur noch eine Hand voll junger Menschen in Wad Hashabi. Zwei Drittel der Bewohner sind über fünfzig Jahre alt, viele sogar über achtzig. Wir sind seit jeher ein gesundes, starkes Volk. Doch anstatt dankbar dafür zu sein, wenden wir uns fremden Religionen und dem Luxus zu. Deshalb zürnen uns die alten Geister.«
»Ich habe gelesen, dass nur Frauen, Kinder und Alte aus dem Dorf verschwanden«, sagte Emmet.
N’tabo nickte, nachdem der Metzger übersetzt hatte. »Um genau zu sein: schwangere Frauen, Kinder unter dreizehn Jahren und einige der ältesten Bewohner von Wad Hashabi.«
»Weshalb keine anderen?«
»Das können allein die Geister beantworten. Aber eines weiß ich genau: Wer die Tradition achtet, hat nichts zu befürchten. Nur die Abtrünnigen werden vom Jinn geholt und von ihm ausgesaugt.«
»Jinn?«
N’tabo blickte Emmet mit weit aufgerissenen Augen an und erklärte: »Vom schwarzen Dämon. Er nährt sich vom Blut seiner Opfer, um sich daran jung zu halten. Er wird unser Dorf so lange heimsuchen, bis wir uns besinnen.«
Eine Pause trat ein. Emmet versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Er hatte gehofft, der Alte könne ihm konkrete Hinweise auf die Vorkommnisse in Wad Hashabi liefern. Stattdessen erzählte er ihm eine Geschichte von Geistern und Vampir-Dämonen – für Emmet allenfalls ein Schauermärchen, damit die Dorfbewohner sich wieder auf den alten Glauben besannen.
N’tabo sagte etwas.
»Er sieht Ihnen an, dass Sie skeptisch sind«, übersetzte der Metzger. »Aber es ist die Wahrheit. N’tabo hat den Dämon mit eigenen Augen gesehen. Das war, als zum ersten Mal Menschen aus dem Dorf verschwanden – vor ungefähr einem Jahr. Der Jinn kam in der Nacht. Er glitt wie ein Schatten durchs Dorf, drang lautlos in die Hütten ein und holte seine Opfer. Sie wehrten sich nicht, sondern schienen bereits tot zu sein, als er sie davonschleppte. N’tabo fürchtete sich so sehr, dass er nicht wagte, Alarm zu schlagen. Gegen einen Dämon kann niemand etwas ausrichten.« Der Metzger stockte, hielt Rücksprache mit dem Dorfältesten und wiederholte noch einmal eindringlich: »Gegen einen Dämon kann niemand etwas ausrichten. Deshalb rät N’tabo Ihnen dasselbe wie Ihrem Freund, als er uns besuchte: Fordern Sie den Jinn nicht heraus. Der Jinn ist mächtig. Er wird sich auch Ihr Blut holen, wenn Sie seinen Zorn wecken!«
26.
A m Nachmittag kehrte Lara Mosehni in ihre Wohnung zurück. Sie fühlte sich matt.
Nach dem Besuch bei Pierre-Louis Hosseini war sie losgefahren, um die Adresse zu überprüfen, die der Japaner bei Hertz angegeben hatte. Aber wie bereits vermutet existierte sie nicht. Zumindest gab es dort kein Hotel namens Plaza, sondern lediglich eine Textilfabrik.
Um keine Möglichkeit außer
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