Der zweite Gral
lange, bis dieser Fall aufgeklärt ist. Das könnte Monate oder gar Jahre dauern. Und die hiesigen Gefängnisse sind alles andere als komfortabel.«
Lara erinnerte sich nur allzu gut an ihre Zelle in Anarak. An die sieben anderen Frauen, mit denen man sie zusammengepfercht hatte. An das kleine Loch in der Ecke für die Notdurft. An die Vergewaltigungen und die anderen Misshandlungen. An die Verstümmelungen.
»Noch einmal, Miss Mosehni: Ich glaube Ihnen.« Tanakas Stimme klang beinahe beschwörend. »Ich kann Ihnen das Gefängnis ersparen. Allerdings nur, wenn Sie kooperieren.«
»Kooperieren?«
Tanaka nickte. »Ich will, dass Sie mir alles über Emmet Walsh erzählen, was Sie wissen. Und ich will, dass Sie Interpol helfen, ihn zu fassen.«
39.
E s war ein herrlicher Abend, der unzählige Spaziergänger auf die Uferpromenade gelockt hatte. Aber keiner von ihnen nahm Notiz von dem unscheinbaren Kleintransporter, der am Straßenrand parkte, etwa zweihundert Meter vom Jeddah Sheraton Hotel entfernt.
Im Laderaum, der von außen nicht eingesehen werden konnte, saßen Tom Tanaka und sein Kontaktmann in der Stadt, Jussuf Ishak. Beide waren umgeben von Überwachungstechnik – Tonaufzeichnungsgeräte, Abhörlautsprecher, ein Videobildschirm, Sender und Empfänger für alle möglichen Einrichtungen der modernen Telekommunikation. Der einzige Nachteil war, dass der Platz zwischen all den Apparaturen kaum für zwei Personen ausreichte. Tanaka kam sich vor wie in der sprichwörtlichen Sardinenbüchse.
Vor ihm lag auf einer kleinen Ablagefläche ein Telefonhörer. Schweigend lauschte Tanaka dem blechernen Wortschwall. Am anderen Ende der Leitung sprach Pierre Dumont, sein Chef in Lyon. Besser gesagt, er schrie. Schon minutenlang.
Tanaka bemerkte, dass er schwitzte, und drehte die Klimaanlage eine Stufe höher. Als Dumont eine Pause machte, nutzte er die Gelegenheit zu einer Gegendarstellung. Er nahm den Hörer und hielt ihn sich ans Ohr. »Dass der Junge umgebracht wurde, bedauert niemand mehr als ich, Monsieur«, sagte er. Obwohl der Ü-Wagen schallisoliert war, sprach er leise. »Aber mich trifft keine Schuld. Ishak war der einzig verfügbare Interpol-Agent in Jeddah. Um ein Team zusammenzustellen, musste ich mich an die hiesige Polizei wenden, und die hat mir zwei blutige Anfänger zugeteilt.«
»Sie hätten auf erfahrenen Polizisten bestehen müssen, Tanaka!«, brüllte Dumont in den Hörer. »Verdammt noch mal, warum haben Sie sich Leute aufschwatzen lassen, die frisch von der Polizeischule kommen?«
»Weil hier derselbe Personalnotstand herrscht wie bei uns.« Tanaka verteidigte sich weiter, obwohl er wusste, dass es keinen Sinn hatte. Selbst wenn er Dumont von seiner Unschuld überzeugen konnte – seinem eigenen Gewissen konnte er nichts vormachen. Nagib al-Hakim war tot, weil er, Tom Tanaka, diesen Jungen in eine Situation gebracht hatte, der er nicht gewachsen war. Denn als Leiter der Jeddah-Operation hatte Tanaka ihm den Befehl erteilt, Lara Mosehni zu beschatten.
Auch der andere junge Bursche war mit seinem Auftrag überfordert gewesen. Er hatte sich Emmet Walsh an die Fersen heften sollen, ihn jedoch schon nach zwanzig Minuten verloren, sodass jetzt niemand wusste, was Walsh im Lauf des Nachmittags getan hatte.
Dumont hat Recht, dachte Tanaka. Ich habe bei der Zusammenstellung des Teams Mist gebaut. Deshalb liegt al-Hakim jetzt mit durchschnittener Kehle in einer Kühlbox.
Die bloße Vorstellung widerte Tanaka an.
Er ließ auch noch den Rest von Pierre Dumonts Schimpfkanonade über sich ergehen und versprach, bis morgen Früh, 9 Uhr mitteleuropäischer Zeit, einen ausführlichen schriftlichen Bericht über den dramatischen Zwischenfall vorzulegen. Dann hängte er ein.
Jussuf Ishak, der Techniker, hatte Dumonts Gebrüll zwangsweise mitgehört. Nun kramte er einen Flachmann aus seiner Hosentasche und hielt ihn Tanaka auffordernd hin.
»Mein Sorgenvertreiber«, sagte Ishak grinsend. »Nehmen Sie einen Schluck. Wirkt garantiert.«
Tanaka hob abwehrend die Hand. »Danke, aber ich möchte klaren Kopf behalten, falls Walsh auftaucht oder die Frau aus dem Hotelzimmer verschwinden will.«
Er ließ den Blick über den großen Monitor in der Mitte der Überwachungskonsole wandern, doch das Bild war dasselbe wie in den letzten sechzig Minuten: Lara Mosehni, die auf ihrem Bett lag und an die Decke starrte – wie sie es unverändert tat, seit er ihr Zimmer verlassen hatte. Sie lag da, starrte ins Leere und war
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