Der zweite Gral
wirkte es auf ihn wie das Ticken einer Uhr. Die Zeit verrann. Unaufhaltsam. Und er saß hier fest, gefangen in einem Verlies, abgeschnitten vom Rest der Welt.
Wie man ihn hierher gebracht hatte, wusste er nicht. Seine Entführer hatten ihn in New York in einen Wagen gezerrt und ihm eine Spritze verpasst. Dann war er eingeschlafen und auf der Pritsche in diesem Raum wieder erwacht.
Anschließend hatte man ihn ausgiebig befragt. Männer, dieer nie zuvor gesehen hatte, wollten wissen, was er über die Entführten aus Wad Hashabi herausgefunden habe. Aber auch an die Befragung konnte er sich allenfalls verschwommen erinnern, weil man ihm irgendwelche Mittel gespritzt hatte, die ihn gefügig machen sollten. Wahrheitsdrogen. Er hatte das Verhör wie im Delirium durchlebt.
Hoffentlich habe ich nicht zu viel verraten, dachte er.
Doch die Zweifel nagten an ihm.
Er fragte sich, wie lange er schon hier war, wie lange man ihn noch festhalten würde und vor allem, was die Entführer mit ihm vorhatten. Bislang ließ man ihn darüber im Unklaren. Verlangte man Lösegeld für ihn? Würden die Entführer ihn irgendwann wieder frei lassen? Oder war er schon so gut wie tot?
Er schreckte auf, als er ein Geräusch an der Zellentür hörte. Ein Riegel wurde zurückgeschoben, ein Schlüssel drehte sich im Schloss. Anthony Nangalas Puls beschleunigte sich. Zum ersten Mal seit Tagen öffnete sich nicht nur die Essensluke, sondern die Tür.
Sie waren zu fünft. Jeder von ihnen brachte gut und gerne zwei Zentner auf die Waage. Männer, die man als Modellathleten hätte bezeichnen können, hätte sich auf ihren Gesichtern wenigstens ein kleines bisschen Menschlichkeit gespiegelt. Doch sie bedachten Nangala mit Blicken wie aus Roboteraugen. Zwei von ihnen kamen in die Zelle und packten Nangala unter den Armen. Als er sich loszureißen versuchte, traf ihn eine Faust in die Magengrube. Danach leistete er keinen Widerstand mehr.
Die fünf Gorillas zerrten ihn durch einen langen Korridor. Links und rechts des Gangs befanden sich Türen, allesamt verschlossen. Die daran befestigten kleinen Schildchen konnte Nangala nicht lesen. Ihm stieg ein Geruch in die Nase, der ihn an ein Krankenhaus erinnerte. Aus irgendeinem Grund machte ihm das Angst.
Am Ende des Korridors blieb die Gruppe stehen. Einer vonNangalas Begleitern drückte einen Knopf, und eine Tür schob sich summend zur Seite. Vor Nangalas Augen tat sich ein hell erleuchtetes, modernes Labor auf. Er spürte einen Ruck an den Achseln und eine Hand im Rücken, als er mit sanfter Gewalt hineinbefördert wurde.
Der Geruch nach Krankenhaus wurde stärker. In den blank polierten Chromtischen und Glasvitrinen spiegelten sich die grellen Neonröhren der Deckenbeleuchtung. Auf den Tischen standen eine ganze Reihe sauber angeordneter Laborgeräte – Mikroskope, Zentrifugen, Pumpen, aber auch zahllose Glaskolben, Petrischalen und in Holzständern lehnende Reagenzgläser. Aus einem Schrank in der Ecke ertönte ein leises Surren. Durch ein Sichtfenster erkannte Nangala einige von Rotlichtlampen beschienene Zellkulturen. Sein Blick schweifte weiter zu einer Glastür, hinter der sich ein zweites Labor befand. Mehrere Ärzte, so schien es, umstanden einen Chromtisch und nahmen eine Operation vor. Nur, dass der Patient kein Mensch war, sondern ein Schaf.
Noch während Anthony Nangala einen Sinn darin suchte, spürte er einen Stich im Arm. Er zuckte zusammen, fuhr herum und sah eine Spritze in seinem Bizeps stecken. Plötzlich begann sich das Labor um ihn zu drehen, und einen Augenblick später versank er in undurchdringlicher Schwärze.
Als er erwachte, wollte er sich mit den Händen die pulsierenden Schläfen massieren, konnte sich aber kaum bewegen. Weder die Arme noch den Kopf, noch den Rest des Körpers. Schlagartig wich seine Müdigkeit blankem Entsetzen.
Wenigstens konnte er die Lider öffnen. Hilflos irrte sein Blick durchs Zimmer. Er befand sich noch immer in dem Labor. Im Augenwinkel erkannte er sein Spiegelbild in einer Glasvitrine. Man hatte ihn mit mindestens einem Dutzend Lederriemen auf eine Art Liege geschnallt. Hand- und Fußgelenke waren getrennt gefesselt. Auch um seinen Hals lag eine Ledermanschette.
Nangala hörte ein Rascheln neben sich. Er spähte zur Seite, so gut es ging, und erblickte eine Krankenschwester. Zumindest sah die Frau so aus. Sie trug einen weißen Kittel, eine weiße Haube über dem Haar und einen Mundschutz, den sie jedoch bis zum Hals heruntergezogen
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