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Der zweite Gral

Der zweite Gral

Titel: Der zweite Gral Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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hatte.
    Nangala wollte etwas sagen, doch seine Zunge fühlte sich fremd und pelzig an. Nur unverständliches Gemurmel kam über seine Lippen. Wenigstens machte er die Frau damit auf sich aufmerksam. Sie drehte sich zu ihm um.
    Nangala schätzte sie auf Mitte zwanzig. Sie hatte dunkle, mandelförmige Augen und feine, ebenmäßige Gesichtszüge. Sie war offenkundig Araberin – und eine überaus hübsche. Nur ihre Haut wirkte hell, beinahe durchsichtig und irgendwie krank. Vermutlich arbeitete sie schon viel zu lange in dieser Neonwelt.
    Sie beugte sich über ihn, hielt ihm ein Auge auf und leuchtete ihn mit einer Taschenlampe an. Ebenso gut hätte sie ihm einen Nagel in den Kopf treiben können. Dann nahm sie sich das andere Auge vor.
    »Sie würden einen erstklassigen Folterknecht abgeben«, murmelte Nangala. Allmählich legte sich das Taubheitsgefühl seiner Zunge und der Lippen.
    Die Frau erwiderte nichts. Sie ging zu einem Telefon und wählte eine Nummer.
    »Er ist aufgewacht«, sagte sie auf Englisch. »Seine Reflexe sind in Ordnung. Ich denke, er ist jetzt bereit für Ihren Eingriff, Doktor.« Sie hängte ein und machte sich auf den Weg zur Tür.
    Anthony Nangala hatte das Gefühl, als würden seine Eingeweide zusammengequetscht. Unwillkürlich begann er zu zittern. »Was haben Sie mit mir vor?«, raunte er. Dann wiederholte er laut und verzweifelt: »Was haben Sie mit mir vor?«
    Die Frau hielt inne und drehte sich um. In ihrem Blick glaubte Nangala Mitgefühl zu erkennen, aber auch Hilflosigkeit und Ohnmacht. Ihre Miene schien zu sagen: Ich kann Ihnen nicht helfen, tut mir Leid. Dann schlug sie die Augen nieder und eilte aus dem Labor.
    Die Ungewissheit verwandelte Minuten in quälende Ewigkeiten. Anthony Nangala versuchte mit aller Kraft, sich von der Liege zu befreien, doch die Lederriemen gaben keinen Millimeter nach. Bald gab er erschöpft auf. Er sah ein, dass es aus diesem Albtraum kein Entrinnen gab.
    Die Tür öffnete sich, und ein Mann in Laborkleidung betrat das Zimmer. Er war etwa sechzig Jahre alt und ging auffallend aufrecht, als hätte er einen Stock verschluckt. Sein weißes, mit Pomade zurückgekämmtes Haar glänzte im künstlichen Licht wie Eis. Sein Lächeln wirkte nur auf den ersten Blick freundlich – auf den zweiten eher überheblich, wenn nicht sogar verächtlich. Und überaus kalt. Er stellte sich als Doktor Goldmann vor.
    Ein KZ-Arzt könnte nicht furchteinflößender sein, dachte Nangala.
    Goldmann öffnete einen Spind und zog sich vor Nangalas Augen Kopfhaube, Mundschutz und Schuhüberstülper an. Anschließend streifte er sich dünne Latexhandschuhe über die schmalen, spinnenbeinartigen Finger.
    »Sind Sie bereit?«, fragte er. Ohne die Antwort abzuwarten, schob er Anthony Nangalas Liege in den OP-Saal nebenan.

41.
    D ie letzten Strahlen der untergehenden Sonne tauchten den Himmel in dunkles Violett. Sergej Ljuschkin, der seinen bequemen Platz im Fond des Learjets gegen den Copilotensitz eingetauscht hatte, sah rechter Hand die spiegelglatte, bleigraue Fläche des Roten Meeres. Links daneben schloss sich eine weite, steinige Uferebene an, die kaum besiedelt war, sah man von wenigen größeren Ortschaften ab. Weiter im Osten ging die Ebene in karges Bergland über, das in der fortgeschrittenen Abenddämmerung dunkel und unheimlich wirkte.
    In einiger Entfernung tauchten die Lichter von al-Quz auf. Links, am östlichen Stadtrand, erkannte Ljuschkin jetzt auch den Palast seines Freundes Assad.
    Vladimir, der Pilot, gab per Funk durch, dass sie sich im Landeanflug befanden. Daraufhin begannen zwei kerzengerade Boden-Lichterketten hinter dem Palast zu blinken. Eine Viertelstunde später setzte der Learjet sanft auf Scheich Assads privatem Rollfeld auf. Ein Lotse winkte die Maschine vor den Hangar, wo bereits ein Jeep wartete, der Ljuschkin zum Palast brachte. Als er dort eintraf, waren auch die letzten Sonnenstrahlen verschwunden. Doch die Kühle, die sich mit Einbruch der Nacht über das Land legte, machte Sergej Ljuschkin nichts aus. Die strengen Moskauer Winter hatten ihn abgehärtet.
    Zwei Uniformierte führten ihn die Treppen hinauf und zwischen mit wunderschönen Ornamenten verzierten Säulen hindurch ins Foyer des Palasts. Von dort ging es durch einen mitroten Teppichen und orientalischen Kunstgegenständen ausgestatteten Gang in einen erstaunlich modern wirkenden Konferenzraum.
    Ein zierlicher Mann stand mit dem Rücken zu ihm. Als Ljuschkin eintrat, drehte der Mann sich

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