Der Zweite Messias
verantwortlich, den Papst und den Vatikanstaat zu schützen. Und nun fragte er sich, was es so Wichtiges gab, dass der höchste Kardinal der Kurie ihn in sein Büro zitierte.
Ryan hatte ein bewegtes Leben hinter sich. Unter anderem war er Detective bei der irischen Polizei gewesen, der Garda Síochána; er hatte als Amateurboxer im Schwergewicht gekämpft, war preisgekrönter Scharfschütze, Spieler, Trinker und Frauenheld. Doch als er mit achtundzwanzig Jahren betrunken am Steuer saß und die Kontrolle über seinen Wagen verlor, waren seine schwangere junge Frau und ihr zwei Jahre alter Sohn ums Leben gekommen. Nach diesem Ereignis gab es für Ryan keinen anderen Weg, als sein weiteres Schicksal in Gottes Hände zu legen. Es dauerte nicht lange, bis er die Priesterwürde erlangte.
Als sie sich dem Petersplatz näherten, flatterte vor dem Wagen ein Taubenschwarm in die Höhe. Ryan hob den Blick und steckte sein Taschentuch wieder ein.
Der Mercedes fuhr nicht durch den Haupteingang desVatikans – der war den Pilgern und Touristen vorbehalten –, sondern bog rechts ab. Vor einer geschlossenen Schranke, die von drei Schweizergardisten in blauen Uniformen bewacht wurde, hielt er an. Ryan konnte sich nur mit Mühe ein Grinsen verkneifen: Er fand die Männer in ihren mittelalterlichen Uniformen und den hautengen Hosen schlichtweg lächerlich. Die zivilen Sicherheitskräfte operierten diskreter.
Hinter der Schranke rechter Hand stand ein langes, graues Backsteingebäude, in dem eine schwer bewaffnete Einheit des zentralen Sicherheitsdienstes stationiert war. Eine der Türen des Gebäudes öffnete sich, und ein schnurrbärtiger Mann trat heraus, unter dessen Lederjacke eine Beretta in einem Holster steckte. Er musterte die Insassen des Mercedes aufmerksam.
Ryan erkannte Angelo Butoni, einen der jungen Beamten des Sicherheitsdienstes. Butoni winkte, als Ryan das Fenster herunterließ. »Monsignore Ryan! Es ist mir eine Freude, Sie zu sehen.«
»Hallo, Angelo. Immer fleißig, hoffe ich.«
»Und wie!«, stieß Butoni seufzend hervor, als wäre er mit den Kräften am Ende. »Wir haben die Patrouillen verstärkt, so wie Sie es angeordnet hatten.«
Ryan lächelte. »Na, Angelo, das alles ist doch kein Problem für Sie. Machen Sie weiter so.«
Einer der Schweizergardisten öffnete die Schranke, worauf Ryans Mercedes die Grenze zum Vatikan passierte.
22.
Kardinal Umberto Cassini saß hinter seinem verzierten Schreibtisch aus dunklem brasilianischen Mahagoni in seinem Büro mit Blick auf den Petersplatz. Er arbeitete Akten durch, als die deckenhohen Eichentüren leise geöffnet wurden und ein junger Prälat in schwarzer Soutane eintrat. »Monsignore Ryan ist da, Eure Eminenz.«
Cassini sah müde aus, als er seinen achtzehnkarätigen goldenen Kugelschreiber auf die Schreibtischunterlage warf. »Gut. Dann wollen wir ihn nicht warten lassen. Schicken Sie ihn herein.«
Der Prälat verneigte sich und zog sich zurück.
Cassini trat vor das Bücherregal hinter seinem Schreibtisch. Er drückte auf ein rotes ledergebundenes Buch, worauf ein leises Klicken ertönte. Die Regalwand schwang langsam zur Seite. Der Kardinal betrat den kleinen Raum dahinter und zog an einer Schnur, um das Licht einzuschalten.
Eine steinerne Wendeltreppe führte nach oben und nach unten. Sie war Teil eines alten Treppen- und Tunnelsystems, das den gesamten Vatikan durchzog. In einer Nische stand Cassinis Privatsafe mit einem elektronischen Tastenfeld. Cassini gab den Code ein und öffnete den Safe. Darin lag eine braune Lederaktentasche mit kunstvoll gearbeiteter Sicherheitskette. Der Kardinal nahm die Tasche heraus und legte sie auf seinen Schreibtisch. Dann ging er zu den geöffneten Panoramafenstern, trat auf den Balkon und schaute hinaus.
Seitdem Cassini bei der Wahl des neuen Papstes den Vorsitz geführt hatte, war sein Leben unstet und hektisch geworden. Es gab viele dringende Angelegenheiten, um die er sich kümmern musste. Besorgt betastete er das Kreuz, das er um den Hals trug.
Als die Tür geöffnet wurde und Sean Ryan eintrat, drehte Cassini sich um. Trotz der Boxernase und den zerfurchten Zügen sah man Ryan seine fünfzig Jahre nicht an. Lächelnd kam er ins Zimmer. Cassini wusste, dass dieser Mann Freundlichkeit und Charme besaß. Er wusste aber auch, dass der Chef des Sicherheitsdienstes einen scharfen Verstand hatte und keine Dummköpfe in seinem Team duldete, was ein tröstlicher Gedanke war.
Cassini kam vom Balkon in sein Büro
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