Der Zweite Messias
zurück. Ryan durchquerte den Raum, kniete nieder und küsste den Ring des Kardinals. »Eure Eminenz.«
»Danke, dass Sie so schnell gekommen sind, Sean. Auf dem Tisch steht Kaffee, falls Sie eine Tasse möchten.«
Ryan richtete sich auf. »Nein, danke. Ich bevorzuge nach wie vor Tee, Eminenz. Die Römer mögen die halbe Welt erobert haben, aber sie haben noch immer nicht die Kunst erlernt, eine gute Tasse Tee zu kochen.«
Cassini bot Ryan einen Platz auf einem der roten Lederohrensessel ihm gegenüber an. »Sie fragen sich bestimmt, warum ich Sie rufen ließ.«
Ryan fielen die dunklen Ringe unter Cassinis Augen auf. Der Kardinal sah so erschöpft aus, als wäre er die ganz Nacht auf den Beinen gewesen. Ryan bemerkte auch die Lücke in dem Bücherregal, und er sah den Geheimgang dahinter und die braune Lederaktentasche mit der Sicherheitskette auf Cassinis Schreibtisch.
Als Chef des Sicherheitsdienstes hatte Ryan den Kardinal bei der Wahl seines Safes beraten, den er vor Jahren hatte einbauen lassen. Doch der geheime Standort hinter dem Regal war Cassinis eigene Entscheidung gewesen. Ryan wusste, dass der kleine Sizilianer gerne das Labyrinth aus Geheimgängen benutzte, umvon einem Stockwerk oder Büro ins nächste zu gelangen, wie ein Kind beim Versteckspiel.
»Ja, ein wenig schon«, erwiderte Ryan.
Cassini drückte gegen das Bücherregal, und ein leises, kaum hörbares Klicken signalisierte, dass es sich wieder an Ort und Stelle befand. »Ehe wir auf das eigentliche Thema zu sprechen kommen, muss ich Sie um etwas bitten.«
»Eminenz?«
»Das Gespräch, das wir gleich führen werden – und das, was ich Ihnen zeigen werde –, muss um jeden Preis vertraulich behandelt werden. Das ist von größter Wichtigkeit. Ich glaube, Sie werden gleich verstehen, warum.«
Cassini befingerte nervös das Kreuz, das er um den Hals trug, blickte auf die verschlossene Aktentasche und seufzte. »Wie Sie wissen, hat der Heilige Vater seine Absichten bezüglich des zukünftigen Kurses der Kirche verkündet. Vor allem geht es dabei um den Plan, sämtliche Akten, die in den Geheimarchiven des Vatikans lagern, der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.«
Ryan nickte. Diese Nachricht hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet und war das alles beherrschende Thema in den Büros und auf den Gängen des Vatikans. »Ein mutiger Schritt, Eminenz.«
Cassini nahm einen schön gearbeiteten Brieföffner mit silberner Klinge vom Schreibtisch. Der Griff war aus einem Hirschgeweih geschnitzt – ein Geschenk des letzten Papstes. In die funkelnde Klinge waren Worte eingraviert, auf die Cassini sehr stolz war: Mit tiefer Zuneigung einem getreuen Diener Gottes.
Cassini zeigte mit der Spitze auf Ryan. »In der Tat ein mutiger Schritt, Sean. Ganz zu schweigen davon, dass der Heilige Vater den Namen Coelestin VI. angenommen hat. Coelestin stammt, wie Sie wissen, aus dem Lateinischen und heißt ›der Himmlische‹.«
»Stimmt es, dass Coelestin V. der einzige Papst in der Geschichte war, der jemals zurückgetreten ist? Er soll ein Träumer, Prophet und Heiler gewesen sein.«
»Und ein Papst, der das Amt widerstrebend angenommen hat, falls es so etwas jemals gegeben hat und wir der Kirchengeschichte Glauben schenken. Er soll gesagt haben, die Ausübung von Macht und die Anbetung Gottes seien nicht vereinbar.« Cassini runzelte die Stirn. »Ich habe sogar Gerüchte gehört, dass unser neuer Papst als zweiter Messias bezeichnet wird, weil er versprochen hat, die Kirche auf den wahren Weg Christi zurückzuführen.«
Ryan nickte. »Ich habe auch davon gehört. Und von den unverblümten Bemerkungen gewisser Leute, die so weit gegangen sind, ihn einen Antichristen zu nennen.«
»Nicht alle hochrangigen Kirchenmänner sind mit den Plänen des Heiligen Vaters einverstanden, aber sein Wort ist Gesetz. Trotz der Ratschläge einiger Mitglieder der Kurie weigert er sich, seine Meinung zu ändern.«
»Und wann genau sollen die Archive der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden?«, erkundigte Ryan sich.
»Der Heilige Vater will den Zeitpunkt auf dem Petersplatz verkünden. Wann, hat er noch nicht gesagt, aber ich habe das Gefühl, dass es schon bald sein könnte. In der nächsten Woche, vielleicht eher.«
»Darf ich fragen, was das alles mit mir zu tun hat?«
Seufzend warf Cassini den Brieföffner auf den Tisch. »Ganz einfach. Ich fürchte, die Absichten Seiner Heiligkeit könnten sein Leben gefährden.«
»Wie ist das zu verstehen?«, fragte
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